Direkt zum Inhalt Direkt zur Hauptnavigation

Denkanstoß 7
"Schockstarre"


„Volker ist heute Nacht gestorben“, Simone Schuster versagte am Telefon die Stimme, sie weinte, konnte nicht mehr weiter reden und legte auf. Am anderen Ende der Leitung behielt der Chef des Verstorbenen den Hörer noch minutenlang in der Hand. Michael Breuer starrte auf seinen Computerbildschirm ohne etwas zu sehen, er schaute auf, sein Blick irrte im Zimmer umher, vom Fenster, zur Sitzgruppe, zurück zum Schreibtisch auf den flackernden Bildschirm. Michael stand unter Schock. Er schloss die Tür seines Büros und bat seine Sekretärin den nächsten Termin abzusagen. Der Tod seines langjährigen Mitarbeiters Volker Schuster aus der Vertriebsabteilung ging ihm nahe, sehr nahe. Viel näher als er sich das hätte vorstellen können.

Michael Breuer hatte im Verlauf seiner Karriere immer mal wieder darüber nachgedacht, was wäre wenn? Was wäre, wenn eine meiner Kolleginnen oder ein Kollege sterben würde. Die Antwort auf diese Frage hat er sich nie gegeben. Es gab immer Wichtigeres zu tun.

Und jetzt trifft der Tod von Volker Schuster seinen Chef völlig unvorbereitet.

Michael Breuer hat für die Menschen in seiner Abteilung immer ein offenes Ohr. Seine Mitarbeiter beschreiben ihn als korrekt, fleißig und ehrgeizig und trotzdem mitfühlend. Die Leute fühlen sich von ihm wertgeschätzt, er hat es geschafft, ganz unterschiedlichen Charakteren in seiner Abteilung eine Heimat zu geben. Ein Umfeld, in dem man auch Trauer und andere familiäre oder persönliche Probleme nicht verstecken muss. In einer mobilen Gesellschaft, in der nicht selten Familienbande loser werden oder sich ganz auflösen, sind Firmen häufig so etwas wie ein Familienersatz. Wir gestatten uns immer weniger Freizeit und Zeit für Ehrenämter und Vereinsarbeit. Der Arbeitsplatz ist immer mehr zum Mittelpunkt des Lebens geworden.

Dass ein Freund oder Verwandter eines Mitarbeiters aus Michaels kunterbunt zusammen gewürfeltem Team stirbt, das war vorgekommen in der Vergangenheit. Bei einer durchschnittlichen Sterblichkeitsrate von bundesweit 1 % der Bevölkerung p.a. sind mindestens 5 % der arbeitenden Bevölkerung akut betroffene Angehörige ersten Grades; d. h. Kinder oder Eltern jüngst Verstorbener. Auf trauernde Mitarbeiter wurde in Breuers Abteilungen immer besondere Rücksicht genommen. Der Gesetzgeber sieht im Trauerfall für die nächsten Angehörigen zwei Tage bezahlten Urlaub vor. Michael hat sich über diese Regelung immer hinweg gesetzt und dadurch die Solidarität der Mitarbeiter gefördert, die einen Teil der Arbeit, die liegen blieb, einfach mit gemacht haben, ohne das groß zum Thema zu machen. Auch war es für Michael Breuer immer eine Selbstverständlich engen Kontakt mit den trauerden Kolleginnen und Kollegen zu halten. Er hat sich nie weg geduckt.

Der Tod von Volker ist auch für seinen Chef eine Ausnahmesituation. Volker Schuster war 46 Jahre alt und seit über 15 Jahren im Unternehmen.

Michael Breuer starrte immer noch auf den Bildschirm auf seinem Schreibtisch. Tränen rannen über seine Wangen. Sollte er eine E-Mail an alle schicken mit der Todesnachricht, oder die Personalabteilung bitten, auf die Schnelle einen Aushang
zu verfassen. Sollte er einfach abwarten, bis sich die Nachricht von alleine rumsprechen bzw. die Leute die Todesnachricht in der Zeitung lesen würden. Er hatte im Verlauf seiner Karriere viele Managementseminare besucht, aber in keinem wurde man auf so eine Situation vorbereitet.

Michael Breuer musste an die Trauer um Lady Diana denken, an das Meer von Blumen, das sich vor dem Buckingham Palast ausbreitete. Diese Form der öffentlichen Trauer hatte ihn berührt damals. Seitdem war es immer wieder vorgekommen, dass Menschen für Stars, Sportler oder beliebte Politiker Blumen niederlegten und zwar nicht auf dem Friedhof, sondern da, wo die Verstorbenen gelebt oder gearbeitet hatten.

Michael Breuer griff zum Telefonhörer und bat seine Sekretärin alle Mitarbeiter in einer Stunde zusammenzurufen. Die Leute sollten vor das Büro von Volker Schuster kommen. Dann schickte er sie los, Lilien und eine Kerze kaufen. Im Netz fand er ein Foto von Volker. Es zeigte den Verstorbenen beim letzten Betriebsausflug an den Edersee. Volker stand auf einem Fels im Wasser und lachte in die Kamera. Das Bild hatte besondere Symbolkraft. Michael drückte auf Print und das Foto glitt aus dem Drucker.

Als sich alle Mitarbeiter vor der Tür von Volker versammelt hatten, trat Michael nach vorne und gab die traurige Nachricht bekannt. Er sprach leise, suchte den Augenkontakt zu den Leuten, immer wieder musste er schlucken, er konnte seine
Tränen nicht unterdrücken. Warum auch? Er erinnerte daran, dass Volker in schwierigen Situationen immer ein Fels in der Brandung war. Michael schluckte, „Für mich war er ein Vorbild.“

Nach kurzem Schweigen öffnet der Chef die Bürotür. Auf Volkers Schreibtisch standen das Bild, die brennende Kerze und die Blumen. In den nächsten Tagen füllte sich der Schreibtisch mit Abschiedsbriefen und kleinen Geschenken, die an den
Toten erinnerten. Der Schreibtisch wurde zum Gedenkplatz. Am Tag der Beisetzung nahmen die Mitarbeiter alles bis auf das Bild mit zum Friedhof und legten es vor den Sarg.

Das Foto von Volker auf dem Fels bekam einen Ehrenplatz in der Teeküche! Und dort hängt es bis heute.

Herzlichst,
Hanna Thiele-Roth und David Roth

Bergisch Gladbach im Januar 2014


Presse-Kontakt:
Reichert Medien Consultants, Gotenstr. 5-7, 65929 Frankfurt am Main,
Tel. 069/78 99 50-35, Fax. 069/78 99 50 36, Mail: kr@medien-consultants.de