Jahrestkünstlerin 2005 bei Pütz-Roth
1940 in Bonn geboren,
2010 in Köln verstorben
Räume mit Fotografie
1940 – ein dramatisches Lichtereignis: taghell die Nacht, Innenräume erleuchtet, Gebäudeumrisse zeichnen Lichtlinien in die Dunkelheit, graue Rauchschwaden am Horizont. Bilder der Zerstörung und eines energetischen Vitalismus zugleich. Bevor sich alles in namenlose Materie verwandelt, illuminieren gleißende “Lichtgestalten” den nächtlichen Schauplatz. Licht, immerzu an die Dunkelheit gekoppelt, verkörpert die andauernde Dialektik von Aufleuchten und Verlöschen. Und jedes Aufleuchten ist wie ein Neuanfang, der aus der Zerstörung hervorgeht. Jedes Aufleuchten macht für einen Augenblick die Präsenz der eigenen Existenz spürbar, ist das dynamische Element, welches einen erstarrten Lebensraum mit Bewegung und Leben erfüllt. Es ist die Chance, zwischen Dunkelheit und Dunkelheit die Vieldeutigkeit von Welt zu erfahren.
Die Erinnerung öffnet einen Raum. Es ist nicht nur der eigene Raum lebendiger Vergangenheit sondern ebenso ein Ort überindividueller Erinnerung. Hier trifft die eigene Biografie auf die Gegenwart kollektiver Geschichte. Individuelles Leben schaltet sich mit der Geburt in die laufende Geschichte ein.
29. August 1940: Das Geburtsdatum der Künstlerin, eine objektive Zeitangabe, besetzt mit subjektiven Gefühlsmomenten, ein Datum, das im Ablauf des allgemeinen Zeitgeschehens vielleicht eine andere wichtige Rolle spielte. Kindheit und Geschichte – es kommt zu Gedankenspielen über absurde gegenseitige Bedingtheiten. Denken wir an die Anfangsdunkelheit individueller Existenz und das “Zurweltkommen” als einer dramatischen Ersterfahrung von Licht. Die eigene Biografie beginnt ebenso wie die gesamte Menschheitsgeschichte, ohne dass wir am “wirklichen” Anfang als “wache Zeugen”¹ dabei sein können, in einem vorsprachlichen Zustand menschlicher Existenz.
Wir suchen dann nach Bildern und Geschichten über das, was am Anfang unseres Lebens und unserer Kultur stand, um Halt und Orientierung zu finden. Beginnt und endet alles mit nicht aufzuschlagenden Seiten im Buch des Lebens?
“Ich legte meine linke Hand auf den Einband und schlug das Buch auf, indem ich den Daumen gegen den Zeigefinger drückte. Meine Bemühung war umsonst: es blieben stets einige Seiten zwischen dem Buchdeckel und meinem Daumen übrig. Sie schienen aus dem Buch zu entspringen. Nun suchen sie die letzte Seite. Auch hier scheiterten meine Versuche. Mit einer Stimme, die kaum noch die meine war, stammelte ich: – Das ist nicht möglich. Der Bibelverkäufer erwiderte immer noch mit leiser Stimme: – Das ist nicht möglich, und dennoch ist es so. Die Zahl der Seiten dieses Buches ist exakt unendlich. Keine ist die erste, keine ist die letzte. Ich weiß nicht, warum sie auf so willkürliche Art nummeriert sind. Vielleicht um auszudrücken, dass die Elemente einer unendlichen Reihe auf absolut beliebige Weise beziffert werden können. Dann fügt er, als ob er laut nachdachte, hinzu: – Wenn der Raum unendlich ist, sind wir an einer beliebigen Stelle im Raum. Wenn die Zeit unendlich ist, dann sind wir an einer beliebigen Stelle in der Zeit.”²
Wir leben in dem, was wir uns erschlossen haben – in einem von uns selbst “gelichteten Raum”, der sich immer wieder verdunkeln und in einen neuen Raum erweitern kann. Einschnitte, Schlüsselerlebnisse zum Beispiel. Krisen, Katastrophen, Gefühle wie Verzweiflung und Entfremdung führen zum Aufbrechen des bisherigen Lebensraumes und zwingen, einen neuen aufzubauen. Die Erinnerung spielt beim Gestalten dieses Existenzraumes eine ebenso wichtige Rolle wie das Bewusstsein für Gegenwart und Zukunft. Walter Benjamin spricht auch von “blitzartigen Erinnerungen” als einer Deutungsenergie, die das Erstarrte zu neuem geschichtlichen Leben erweckt. Erinnerung ist nicht an den Lauf der Zeit – verstanden als ein Kontinuum von Vergangenheit und Gegenwart – gebunden und distanziert sich so von jedem Gedanken an eine Kontinuitätssicherung. Sie bringt vielmehr Vergangenheit und Gegenwart, Nähe und Ferne in einem Punkt zusammen, ist herausgelöst aus linearen Zeitkonstruktionen. So vermag die Erinnerung zeitliche Gesetzmäßigkeiten, wie z.B. die Unumkehrbarkeit der Zeit und ihren Verlauf auf ein immer neues Ende hin, zu negieren. Erinnerung kann somit die Grenzen des Gegebenen transzendieren.
Im Vorgang des Erinnerns findet eine “umfassende Raumtransformation statt, durch die wir unseren gesamten Lebensraum umstrukturieren. (…) Wir sind zugleich hier und dort bei dem woran wir denken (…). In der Erinnerung ist eben auch Geschmack da, Stimmung, Licht, Gefühle und die eigene entsprechende Subjektivität. (…) Wir sind es selbst als unsere räumliche Verfassung, als geschichtliche geschichtete Lebensgeschichte. Von der Geburt bis heute. Die Gedächtnisstruktur eröffnet Räume, die unsere Geschichte sind und worin wir immer noch leben. Wie weit diese Räume zugänglich sind, hängt von unserer momentanen Gegenwart ab”³. Gegenwart bedeutet Präsent-Sein, Geöffnet-Sein, Offenheit für ein Gegenüber.
Erinnerung ist im Werk von Krimhild Becker als Vorgang zu verstehen, der ein “Erinnern nach vorne” impliziert, erlebte Gefühle und Empfindungen, entfernte Dingweiten, Seh-Erfahrungen, verschüttete Bilder im Bewusstsein von Gegenwart zu verankern, Zeit in ihrer individuellen Erlebbarkeit erfahrbar zu machen. In Krimhild Beckers großformatigen Fotoarbeiten überlagern sich verschiedene Zeiten und existentielle Zustände. Ein komplexes metaphorisches Sinngefüge entsteht. Zwei Bildebenen, Foto und Neonröhre beispielsweise, die auf Stillstand und Bewegung, auf Anwesenheit und Abwesenheit und damit auf Objekt (Totes, Starres) und Subjekt (Aktion/Leben/Licht) verweisen, können eng beieinander liegen und wie in einem Gedächtnisspeicher übereinander geschichtet sein oder als unüberwindbar erscheinende Gegensätze Turbulenzen im Bildraum erzeugen. Im Strudel der in Bewegung geratenen Bildkonstruktion öffnen sich dann bisher ungeahnte Räume von Weite, Tiefe, Grenzenlosigkeit. Im Kraftfeld der sich auflösenden Gegensätze steckt ein Potential, das Ausdruck von intensiver Lebensenergie und damit von Zukunft ist. Krimhild Beckers inszenierte Bild-Räume bauen sich aus der Idee des assoziativen Erinnerns, welche eine deutliche Absage an Vorstellungen vom Leben als einer geordneten Abfolge in einem Raumkontinuum enthält, ebenso auf, wie aus der künstlerischen Fähigkeit, den Raum in die Fiktionalität auszudehnen.
- Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/M 1988, S. 39
- Jorge Luis Borges, Das Sandbuch, Erzählungen,
Aus dem Spanischen von Dieter E. Zimmer, München 1977, S. 57 - Franz Xaver Baier, Der Raum, Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln 2000, S. 56;
vgl. Aleida Assmann, Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Gedächtnisbilder, Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, hrsg. V. Kai-Uwe Hemken, Leipzig 1996, S. 16-46
1940 | in Bonn geboren, im März 2010 in Köln verstorben |
1960-66 | Studium der Malerei an den Kölner Werkschulen |
1966-67 | Aufenthalt in Griechenland |
1970 | Auseinandersetzung mit Fotografie |
Gründung der Zeitschrift “nummer” und des Ausstellungsforums “depot” in Köln | |
1978 | Fotosequenzen in Buchform |
1980-81 | Aufenthalt in New York |
1986 | großformatige Fotoarbeiten |
1991-92 | Arbeitsstipendium Kunstfonds Bonn e.V. |
1992 | Fotoinstallationen mit Linienleuchten |
1995 | Fotoschnitte |
2000 | Foto/Film |
Einzelausstellungen (Auswahl) K = Katalog
1978 | Artothek Köln |
1979 | gallery without a gallerist, Köln |
1982 | Galerie Rudolf Zwirner, Köln |
1985 | Galerie Imago, Köln (K) |
1987 | Brühler Kunstverein (K) |
Galerie B, Nimes | |
1987 | Brühler Kunstverein (K) Galerie B, Nimes |
1989 | Burghaus Stollberg |
1990 | Artothek Köln |
1992 | Museum Schloß Morsbroich, Leverkusen (K) |
Kunsthalle Bremen (K)
1993 | Stadtgalerie am Elbeforum, Brunsbüttel (K) |
ARTillerie, Köln | |
Raum für Kunst bei Steifen Missmahl, Köln | |
1994 | Gesellschaft der Freunde Junger Kunst, Baden-Baden (K) |
1995 | Galerie Ingrid Haar, Mönchengladbach (K) |
1996 | Kunstraum Fuhrwerkswaage, Köln (K) |
1997 | Kunstverein Krefeld |
Zeche Zollverein, Essen (mit Leiko Ikemura, Gloria Friedmann) | |
Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen, Magdeburg (K) | |
1998 | Galerie Schneiderei, Köln |
1999 | Gothaer Kunstforum, Köln (mit Michael Jäger) (K) |
2001 | “Wändewandel”, Museum Schloß Hardenberg, Velbert (K) |
Ausstellungsbeteiligungen (Auswahl)
1971 | “Konzepte”, depot, Köln (K) |
1972 | “Filme”, depot, Köln (K) |
1974 | “Progressionen I”, Köln |
1975 | “Seven Cologne Artists” Gallery Mercer Street, New York (K) |
1982 | “Künstler verwenden Fotografie”, Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart (K) |
1984 | “Kunstlandschaft Bundesrepublik Deutschland”, Kunstverein Wilhemshaven, Kunstverein Münster (K) |
1986 | Künstlerhaus Stuttgart (mit Heinz Breloh) |
1988 | “Kunst Köln II”, Kunsthalle Köln (K) |
“Derriere Les Ponts”, Nimes | |
1990 | “Mystere et Mythes”, Goethe-Institut Paris |
“Kölner Künstler”, Zeitkunstgalerie Kitzbühel | |
1991 | “Zweiter Deutscher Fotopreis”, Stuttgart (K) |
“Kunst Köln III”, Kunsthalle Köln (K) | |
1993 | “Abstrakt”, Deutscher Künstlerbund (K) |
“Deutsche Kunst mit Fotografie – die 90er Jahre”, Rheinisches Landesmuseum Bonn, Architekturmuseum Frankfurt/Main, Kunstverein Wolfsburg (K) | |
1994 | “Innere Fotografie”, Gothaer Kunstforum, Köln (K) |
“Natur im Stilleben – natura morte?”, Museum Bochum (K) | |
1995 | “Links Mitte Rechts (Triptychon)”, Galerie Hafemann, Wiesbaden |
1997 | “Fotografie als Geste”, Staatliches Museum Schwerin |
1998 | “Lieblingsort”, Köln (K) |
1999 | Kunstbaus Essen “P Review”, Galerie Schneiderei, Köln |
2000 | “Niederrheinische Uferlosigkeit”, Ausstellungsprojekt von Michael Jäger, Museum Katharinenhof, Kranenburg |
2002 | Galerie Hafemann, Wiesbaden Deutscher Künstlerbund, Berlin |