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Denkanstoß 33
"Andi kommt nicht mehr"


Unruhe in der Firma. Andi Schubert, Art Director einer großen Werbeagentur, ist heute Morgen nicht zum Meeting erschienen. Der Kunde ist sauer und der Auftrag in Gefahr. Sein Boss Werner Herweg schnappt sich das nächstbeste Telefon und ruft bei den Schuberts an. Plötzlich wird der Chef nachdenklich, sein Ärger weicht stiller Anteilnahme: Andi Schubert ist tot. Ums Leben gekommen bei einem Verkehrsunfall auf der A5 auf dem Weg in die Agentur.

Eine halbe Stunde später haben die Bildschirmschoner die Herrschaft in der zweiten Etage übernommen. Niemand kann jetzt arbeiten. Fassungslos stehen die Kollegen in den Fluren, Sätze wie „bitte, WAS ist passiert?“ und „das kann doch nicht sein, ich hab doch noch mit ihm telefoniert“ schwirren durch offene Bürotüren an einsam klingelnden Telefonen vorbei.

Jedes Jahr gibt es beinahe eine Million Sterbefälle in Deutschland. Das bedeutet beinahe eine Million Mal trauernde Angehörige, die natürlich auch Mitarbeiter und Kollegen sind. Zwei Tage Sonderurlaub werden nächsten Angehörigen in der Regel gewährt, dann hat man wieder voll funktionsfähig am Arbeitsplatz zu erscheinen. Wer kann schon in zwei Tagen den Schock über den Verlust eines geliebten Menschen verarbeiten und zur Tagesordnung übergehen? Im Büro ist für Privates nur wenig Raum. Wir behaupten, durch unterdrückte, falsch gelebte Trauer entsteht jedes Jahr ein volkswirtschaftlicher Schaden, der in die Milliarden geht. Trauer am Arbeitsplatz zulassen, offen mit dem Verlust umgehen, auch wenn man vermeintlich Schwäche zeigt, wäre eine Alternative zur stummen Ignoranz, mit der Trauerfällen im Berufsalltag häufig begegnet wird.

Kehren wir noch einmal zur Agentur und Andi Schubert zurück.
Die Personalabteilung verfasst eine Todesanzeige für die örtliche Zeitung, jemand geht durch die Büros und sammelt Geld für einen Kranz. „Letzte Grüße, deine Firma“. Es gibt vielleicht einen Aushang am schwarzen Brett. Für die Beerdigung werden die Kollegen ein paar Stunden freigestellt. Das war’s?

Das ist Andis Chef nicht genug. Werner Herweg will nach dem Tod von Andi Schubert nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, er will seinen Mitarbeitern in diesen schweren Wochen zeigen, dass sie nicht nur als Kolleginnen und Kollegen geschätzt, sondern auch als Menschen geachtet werden, dass sie mehr sind als Namenschilder an Office-Türen, die sich nach Belieben austauschen lassen. Herweg legt im Empfangsbereich der Firma ein Kondolenzbuch aus, in dem sich schon nach kurzer Zeit die Seiten füllen. Oft steht da einfach nur: "Ich denke an dich. Du fehlst uns.“ Der Chef selbst schreibt ein ganzes Dossier hinein, in dem er die Verdienste des Kollegen für die Firma würdigt, aber auch seine Macken, seinen Humor, seine Sensibilität und Freundlichkeit erwähnt. Dann lässt Werner Herweg auf dem schmalen Grünstreifen, der das Gebäude vom Parkplatz trennt, eine Birke pflanzen.

Mittlerweile sind zwei Jahre vergangen. Wenn die Mitarbeiter der Agentur heute an der jungen Birke vorbeikommen, deren Blätter in der Sonne leuchten, werden sie nicht nur an Andi Schubert erinnert. Sie werden auch daran erinnert, dass hinter ihrem toughen, erfolgshungrigen Chef ein Mensch steckt, der Gefühle zulässt und für den seine Untergebenen nicht nur funktionierende Mitarbeiter sind.

Die gemeinsame Trauer um Andi Schubert hat bewirkt, dass die Abteilung von Werner Herweg noch enger zusammengerückt ist. In der Agentur gilt sie als eingeschworener Haufen, das kleine „gallische Dorf“ in der zweiten Etage. Das hätte Andi gefallen.

Herzlichst

Hanna Thiele-Roth      David Roth

Bergisch Gladbach im Oktober 2018

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