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Denkanstoß 55
"Eure Mutter ist für mich gestorben"


Wie oft hatten Sandro und Marc ihren Vater diesen Satz sagen hören? Ben Kiefhaber konnte seiner Frau nicht verzeihen, dass sie ihn und die Kinder verlassen hat, um ein neues Leben anzufangen. Melanie schlug eines Tages die Tür ihres VW Golf zu, startete den Motor, fuhr aus der Einfahrt und hat nie mehr einen Fuß in das Reihenendhaus am Ende des Cheruskerweges gesetzt.

Die Ehe der Eltern war nach fünfzehn Jahren zerbrochen. Familie Kiefhaber passierte das, was heute fast in jeder zweiten Ehe geschieht. Melanie und Ben reichten die Scheidung ein.
Sandro und sein Bruder blieben beim Vater. Ben bestand darauf, das Sorgerecht zu bekommen und Melanie willigte ein. Dass sie das damals tat, um der Familie einen langen Rechtsstreit vor Gericht zu ersparen, wurde von Ben immer als Märchen abgetan.

Ben sprach vor seinen Kindern über die Mutter immer mit diesem verächtlichen Unterton. Über die Wut und Trauer, verlassen worden zu sein, ist er nie hinweggekommen. Bis heute nicht, die Scheidung ist über zwanzig Jahre her.

„Eure Mutter wollte frei sein und auf die Juchhe gehen, da hättet ihr Kinder nur gestört“ so lautete seine Version der Trennungsgeschichte. Ben konnte nicht anders, er ließ keine Gelegenheit aus, seine Ex schlecht zu machen. Es dauerte Jahre, bis seine Kinder begriffen, dass er nur deshalb so redete, weil der Schmerz so tief saß. „Sie hat uns im Stich gelassen! Eure Mutter ist für mich gestorben.“

Melanie war damals ausgezogen, weil sie sich in einen Kollegen verliebt hatte. Sie wusste, dass Ben ihr den Seitensprung niemals würde verzeihen können und erfand deshalb die Geschichte von der Enge der Vorstadt, dem Drang nach Freiheit und einem neuen Leben.
Erst zwei Jahre später erfuhren die Kinder und ihr Ex-Mann, dass Melanie einen neuen Partner hatte, der auch zwei Kinder mit in die Beziehung brachte.

Ein bisschen beruhigte sich die Situation als Ben endlich bereit war, eine neue Frau in sein Leben zu lassen. Es entstand das, was heute beinahe üblich ist. Zwei Patchworkfamilien, in denen Kinder aus den früheren Partnerschaften mal hier, mal da wohnten und sich im Großen und Ganzen mit der neuen Situation anfreundeten.

Nur Ben konnte nicht aus seiner Haut. Er lästerte über Melanie und beschwerte sich darüber, dass Marc und Sandro zu viel Zeit mit ihrer Mutter verbrachten. Immer wieder versuchte er seine Söhne dazu zu bringen, sich von Melanie abzuwenden. „Sie hat uns im Stich gelassen.“

Für die Söhne wurde die Situation zum Alptraum. Die Jungs verabredeten, zu Hause nicht mehr über ihre Mutter zu sprechen. Im Lauf der Jahre wurde Melanie in Familie Kiefhaber regelrecht totgeschwiegen.

Und dann starb Melanie.

Ihr Tod war für alle eine Katastrophe. Auch für Ben. Seine Kinder machten ihm Vorwürfe. Und sie hatten recht. Er war dafür verantwortlich, dass sich die Verhältnisse in Familie Kiefhaber nie hatten beruhigen können. Die Jungs hatten Schuldgefühle, weil sie sich von ihrem Vater hatten beeinflussen lassen.

Der Satz „Eure Mutter ist für mich gestorben“, den man zu Lebzeiten meistens einfach so daher sagt, war traurige Wirklichkeit geworden. Die Chance zur Aussöhnung, zum Verzeihen war vertan. Und das war das Schlimmste. Auch Ben spürte, dass er diesen Fehler nie mehr würde gut machen können.

Ben, Sandro und Marc gingen gemeinsam zur Trauerfeier. Ben weinte um seine Ex-Frau. Dass er seine Gefühle am Grab zeigen konnte, hatte etwas Versöhnliches.
Von ihm hörte man nie mehr ein schlechtes Wort über Melanie.

Herzlichst

Hanna Roth              David Roth



Bergisch Gladbach im November 2022

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