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Denkanstoß 8
"Aus der Schockstarre treten"


Eine Träne rann Michael über die Wange. Die Geschichten, die seine Mitarbeiter über den verstorbenen Kollegen Volker Schuster erzählten, berührten ihn. Es tat allen gut zu sehen, dass auch der Chef trauerte, er in diesem schweren Moment Gefühle zeigen konnte, ganz bei seinen Mitarbeitern war. Volkers geliebte Tasse stand im Konferenzraum auf dem Tisch, dahinter die Fotografie mit Volker beim Betriebsausflug am Edersee.

Nach der Todesnachricht vor zwei Tagen war Michael Breuer schon am Nachmittag aus dem Büro gegangen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen und wollte sich nicht dazu zwingen, seine Trauer einfach beiseite zu schieben und Dienst nach Vorschrift zu machen. Nach Hause gehen, kam auch nicht infrage. Michael wollte seiner Frau nicht erklären müssen, warum er keine Lust hatte, zu reden. Er wollte ein paar Stunden alleine sein und so lief er ziellos durch die Fußgängerzone, in der die Leute ihre Feierabendeinkäufe von Geschäft zu Geschäft schleppten.

Wie unwichtig doch auf einmal so etwas Alltägliches wie Einkaufen wurde. Michael starrte in die vollen Schaufensterauslagen, ohne etwas zu sehen. Der Geruch des Bratwurststandes stieg ihm in die Nase, aber er hatte zum ersten Mal in seinen Leben keinen Appetit auf eine Currywurst. Er sah sein Spiegelbild im Schaufenster und dachte darüber nach, wer um ihn trauern würde. Er wischte den Gedanken schnell beiseite, weil er ihm unangemessen erschien. Schließlich durfte er leben. Volker war gestorben.

Die bunten Tassen in der Auslage waren ihm nicht sofort aufgefallen, er war schon dabei weiter zu gehen, als er sich noch einmal umdrehte und die Tassen anstarrte, ohne zunächst zu wissen warum. Dann sah er es. Eine der Tassen war rot, wie Volkers Tasse. Sie stand inmitten lauter bunter lustiger Henkelmänner. Michael liefen Tränen über die Wangen. Er sah Volker im Kreise der Kollegen.

Der Besuch bei Volkers Witwe war schwer. Michael Breuer kannte Simone Schuster kaum. Volker hatte strikt darauf geachtet, „den Job nicht mit nach Hause zu nehmen“, wie er immer sagte, dazu gehörte auch, so wenig wie möglich mit Kollegen private Kontakte zu pflegen. Alle hatten das respektiert. Simone war sehr gefasst und distanziert. Der Schmerz über den Verlust war einfach zu groß, um dem ehemaligen Chef ihres Mannes etwas vorzuspielen. Michael war froh, dass Simone sich nicht verstellte. Sie dankte für die Beileidswünsche und die einfühlsame Traueranzeige. Die Wertschätzung der Kollegen hatte ihr gut getan, auch wenn sie im Moment nicht in der Lage war, das zu zeigen.

Dann kam der Tag der Beerdigung. Michael setzte sich bei der Geschäftsleitung dafür ein, dass die Abteilung an diesem Morgen geschlossen blieb, so dass alle Kollegen die Möglichkeit hatten, an der Trauerfeier teilzunehmen. Die ganze Abteilung erschien in der Trauerhalle. Auf dem Sarg stand ein großes Foto von Volker und Simone. Die beiden hatten erst vor einigen Wochen silberne Hochzeit gefeiert. Eine einzige Rose lag vor der Bild.

Michael Breuer wollte eine Rede halten, fühlte sich aber nicht in der Lage. Er hatte die Zeilen selbst verfasst, gehalten hat die Rede dann die Kollegin, die mit Volker seit vier Jahren das Büro teilte. Sie verlas auch kleine Abschiedsgrüße, von „Mach´s gut Volker, wir werden dich vermissen“, was die einfachste Variante war, bis hin zu
kleinen Marotten, über die die anderen auch jetzt noch schmunzeln mussten, wie zum Beispiel, dass Volker immer darauf bestand, jeden Morgen seinen Kaffee aus der gleichen roten Tasse zu schlürfen. Genau diese Tasse stand nun etwas verloren umringt von Trauergestecken vor dem Sarg.

Ein paar Tage nach der Trauerfeier erreichte ein Paket die Abteilung, es kam von Simone Schuster. Sie hatte für die Kollegen einen großen Kuchen gebacken und dem Paket auch Volkers Tasse beigelegt. Die rote Tasse hatte ihr Zuhause im Büro und da sollte sie auch bleiben.

Michael lächelte und stellte die Tasse zu den Henkelmännern aus dem Schaufenster, die er als Erinnerung an Volker Schuster für sich und die Kollegen gekauft hatte.

Herzlichst,
Hanna Thiele-Roth und David Roth

Bergisch Gladbach im März 2014


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