Denkanstoß 11 – Fünf Tage Abschied

Sechsunddreißig Stunden gewährt der Gesetzgeber im Schnitt, um sich zu Hause von seinem verstorbenen Angehörigen zu verabschieden. Warum es gerade sechsunddreißig sind? Diese Frage wird Ihnen niemand beantworten können. Der Prozess der Zersetzung, des Verfalls, hält sich jedenfalls nicht an die Vorgaben der Bestattungsgesetze. Während der ersten drei Tage werden Veränderungen sichtbar (die Haut wird blass, die Wangen fallen ein, die Totenstarre tritt ein), die unumstößlich und ganz natürlich zu unserem Dasein dazu gehören. Wird der Tote in einem kühlen Raum aufgebahrt, halten sich die fremden Gerüche, die durch Gärungs- und Fäulnisprozesse im Körper entstehen, in Grenzen. Mir sind Fälle bekannt, wo Verstorbene über eine Woche im Kreise der Trauernden verblieben sind – eben so lange, bis die Familie bereit war loszulassen, den Toten zur letzten Ruhe zu betten.

Darf Jürgen Fliege seine tote Mutter fünf Tage in der Wohnung behalten? Schauriger Skandal oder notwendiger Tabubruch? Hat sich der TV-Pfarrer da nicht ein bisschen viel Zeit gelassen, um von seiner Mutter Abschied zu nehmen?

Um etwas so Unfassbares wie den Tod zu begreifen, braucht man Zeit und man braucht einen Raum, in den man sich zurückziehen kann. Warum darf dieser Trauerraum kein Raum in der eigenen Wohnung oder im eigenen Haus sein – wo man gemeinsam gelebt, geliebt und vielleicht auch gelitten hat? Es gibt keinen Ort, der uns vertrauter wäre, als die eigenen vier Wände. Über 80% der Menschen sterben heutzutage im Krankenhaus. Was soll makaber oder verwerflich daran sein, den Trauernden die Möglichkeit zu geben, in vertrauter Umgebung mit ihrem Verlust fertig zu werden? Warum das Begreifen und schließlich das Abschiednehmen
in eine kalte Friedhofshalle oder den gekachelten Leichenkeller eines Krankenhauses verlegen? Ist an diesen Orten überhaupt ein würdevoller Abschied von einem geliebten Menschen möglich? Ich behaupte: Nein, denn Trauer ist eine besondere Form der Liebe, Trauer braucht, genau wie die Liebe, Vertrautheit – Trauer braucht eine Heimat. Und wo könnte mehr Heimat sein als im eigenen Zuhause.

Nach meiner Erfahrung kommt man über das Leid und den Schmerz, den ein Todesfall verursacht, besser hinweg, wenn man begreift und damit akzeptiert, dass etwas Endgültiges, Unumstößliches geschehen ist. Dieser Mensch wird nicht wieder lebendig. Um diese Tatsache zu akzeptieren, hilft es Trauernden zu sehen, zu fühlen, zu riechen – mit allen Sinnesorganen wahrzunehmen – dass dieser Mensch tot ist. Ich rate den Menschen, die zu mir kommen, es zu wagen, diese Erfahrung zu machen. Sich Zeit dafür zu nehmen. Wie lange, das bleibt jedem selbst überlassen. Ob ein, zwei oder fünf Tage – der Trauernde weiß genau, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, den Sarg zu schließen.

Fritz Roth