Denkanstoß 15 – “Stille Trauer”

Als Jan die Trauerkarte in Händen hielt, war es für ihn, als würde er durch ein Fenster in seine Kindheit schauen. Er sah Herrn Sänger, wie er in seinem schicken Modeladen Blusen von Cacharel auspackte und auspreiste, wie er Damenmäntel von Windsor über Bügel warf und wie er seiner Mutter Komplimente machte. Seine Freundlichkeit war nie aufgesetzt, sein Wohlwollen nie Mittel zum Zweck, um seinen Kundinnen etwas anzudrehen. Herr Sänger war für die oberflächliche Modebranche viel zu tiefsinnig, er war entspannt und strahlte, auch wenn sein Laden voll war, große Gelassenheit aus.

Herr Sänger war ein Schöngeist, der danach strebte, die Frauen mit seinen Kleidern ein bisschen glücklich zu machen. Seine eigene Garderobe war immer von schlichter Eleganz. Rahmengenähte Schuhe, ein unauffälliger aber hochwertiger Anzug, blaues Hemd, den obersten Knopf geöffnet und immer hatte er ein rotes Einstecktuch in der Brusttasche.

Auch für Jan hatte Herr Sänger einen Blick. Der Junge saß staunend auf einem Hocker mitten im Geschäft und himmelte seine Mutter an, die ständig mit anderen Klamotten aus der Kabine schwebte. Wenn Herr Sänger etwas nicht gefiel, legte er den Kopf schräg und sagte: „Wir finden was Besseres für Sie“. Jan lobte
er dafür, dass er seine Mutter so geduldig unterstütze. Jan verstand damals nicht ganz was Herr Sänger meinte, da er ja nur dasaß und nichts tat.

Herr Sänger war elegant und gleichzeitig von einer unaufdringlichen Coolness. Seine Mutter mochte ihn, vielleicht wollte Jan auch deshalb so werden wie Herr Sänger, auch weil man in seinem Geschäft das Gefühl haben konnte, die Welt sei ein guter Platz.

Als Jan dann erwachsen wurde, vergaß er Herrn Sänger irgendwann. Nur manchmal, wenn er mit seiner Frau einkaufen ging und die eitlen, unfreundlichen Modeberater mit ihren gegelten Haaren und getrimmten Dreitagebärten in den Flagshipstores erlebte, kam er ihm in den Sinn.

Herr Sänger war ein Gentleman alter Schule. Für Männer wie ihn musste das Wort Gentleman erfunden worden sein.

Und jetzt war er gestorben. Hochbetagt. Die Karte war von seiner Frau Almut und seinen Töchtern Anna und Teresa unterschrieben. Obwohl die Kindheit mit Herrn Sänger weit weg war, machte die Karte Jan traurig. Doch dann las er einen Satz, der ihn tief berührte, weil er traurig und schön zugleich war:

Hajo Sänger ist dem Tod begegnet, wie er gelebt hat, mit großer Gelassenheit.

Jan fiel auf, dass er den Vornamen von Herrn Sänger nie gewusst hat. Trotzdem war der Mann Teil seiner Kindheit.

Er weinte um Herrn Sänger und es war ok.

Herzlichst,
Hanna Thiele-Roth und David Roth
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Bergisch Gladbach im Juni 2015

 

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