Marianne war vier Jahre alt, als ein älterer Mann aus ihrer Nachbarschaft starb. Sie kannte ihn nur als den „krummen“ Friedrich, der in dem Haus mit dem katzenkopfgepflasterten Hof wohnte. Als Friedrich starb, wurde er in der kleinen Scheune aufgebahrt, mit offenem Tor zum Hof hin. Mariannes Oma Ria nahm sie bei der Hand und ging mit ihr zum Abschiednehmen.
Damals, vor 25 Jahren, gab es noch eine Gemeindeschwester. Lucana stand in ihrer Schwesterntracht am Kopfende des Sarges und las Gebete und Abschiedsworte aus einem schwarzen Buch. Der ganze Ort erwies dem „krummen“ Friedrich die letzte Ehre: Angehörige, Freunde und Nachbarn.
Marianne stand dicht bei ihrer Oma, unsicher, die Situation war ihr fremd. Leise fragte sie: „Oma, was macht der Mann da? Warum schläft er in der Scheune?“ Die Oma flüsterte: „Er schläft nicht, er ist gestorben“. Später erklärte die Oma ihr, dass die Seele vom Friedrich jetzt bestimmt im Himmel sei und sein Körper nicht mehr lebe und nun beerdigt würde. Daran war nichts Befremdliches, nichts Traumatisches. Es war einfach so. Heute ist Marianne selbst Mutter, wohnt in einem modernen Mehrfamilienhaus in Wipperfürth und hat einen fünfjährigen Sohn. Eines Tages passiert es: Die alte Dame, die unterm Dach des großen Mehrfamilienhauses wohnt, stürzt im Treppenhaus und kommt ins Krankenhaus. Mike bekommt nicht mit, wie die Sanitäter „Oma Oben“ abholen. Er weiß nur, dass sie auf einmal nicht mehr da ist. Marianne erklärt ihrem Sohn, dass die alte Dame aus der Dachwohnung auch nicht mehr wieder kommt. Sie war alt, krank und ist im Krankenhaus gestorben.
„Wo ist sie jetzt?“ will Mike wissen. „Im Himmel, ganz bestimmt“ antwortet Marianne. Damit ist Mikes Frage aber nicht beantwortet, er will wissen, ob er sie dort besuchen kann, wie in ihrer Wohnung unterm Dach, wo er nach dem Kindergarten oft heißen Kakao mit ihr getrunken hat. Marianne erinnert sich an ihre erste Begegnung mit einem Toten. Früher war es ganz normal, dass Kinder mit Verstorbenen in Kontakt kamen. Es gehörte einfach mit zum Leben. Heute sterben die meisten Menschen im Krankenhaus oder im Pflegeheim.
Nur selten nimmt dann die ganze Familie Abschied. Auch wenn der Tote im eigenen Haus liegt, in vertrauter Umgebung gestorben ist, dürfen Kinder oft nicht selbst Abschied nehmen.
Kinder sollten die Chance haben, zu begreifen, dass ihr Opa oder ihre Oma gestorben ist und nicht mehr aufwacht. Es gibt keine Altersbegrenzung für den Umgang mit dem Tod. Jeder Mensch ist in der Lage, die Erfahrung eines Verlusts zuzulassen. Ich kann Eltern nur raten, Kindern die Begegnung mit Verstorbenen zuzumuten.
Die Eltern müssen damit rechnen, dass Kinder mit der Situation anders umgehen, als sie erwarten. Sie trauern anders: Ein zweijähriges Kind krabbelt womöglich durch den Saal oder fährt mit seinem Dreirädchen um den Sarg herum. Ein vier- oder fünfjähriges Kind versucht vielleicht, dem Opa Wärme einzustreicheln und erkennt, dass er tot ist. Es versteht dann, was Tod ist. Ein siebenjähriges Kind weint und schreit, zeigt seine Gefühle und dreht sich im nächsten Moment möglicherweise um, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und will ein Eis haben.
Selbstverständlich sollen Kinder nicht mit verstümmelten Unfallopfern oder Ähnlichem traumatisiert werden. Aber dass der Tod zum Leben gehört und etwas Natürliches ist, das können auch Kinder schon begreifen. Im Gegensatz zu uns rationalen Erwachsenen kommen Kinder damit erstaunlich gut klar.
Ihr Fritz Roth