Denkanstoß 21 – Stille Nacht, traurige Nacht …

Adventszeit in Frankfurt. Weihnachtsmarkt auf dem Römerberg. Die fröhliche Menschenmenge schiebt sich an Buden mit Lebkuchen und Christbaumschmuck vorbei. Im Gedränge eine junge Frau, von der die Glühwein trinkenden, gut gelaunten Menschen kaum Notiz nehmen: Katja Berger, 35. Katja hat den Mantelkragen hochgeschlagen, sie beobachtet traurig einen rotgewandeten Weihnachtsmann, der Süßigkeiten an Kinder verteilt. Vor sechs Wochen starb ihr Vater. Während die Weihnachtsmarktbesucher fröhlich die Weihnachtslieder mitsummen, die aus den Lautsprechern der Buden schallen, möchte Katja am liebsten weinen. Die weihnachtliche Stimmung rüttelt an ihrer mühsam aufrecht erhaltenen Selbstbeherrschung. Ihr graut vor dem bevorstehenden Heiligen Abend. Das Fest der Liebe ist nach einem Trauerfall für viele Menschen eine ganz besondere Herausforderung. Wenn der Platz von Oma am Weihnachtstisch leer bleibt oder der Vater nicht wie gewohnt an Heiligabend die Gans anschneidet, kein Kinderlachen durch das festlich geschmückte Wohnzimmer schallt, dann wird einem umso mehr bewusst, wie groß und unwiederbringlich der Verlust des geliebten Partners, Freundes oder Kindes ist.

Für viele Trauernde ist der 24.12. ein regelrechter Angsttermin. Einfach „Abtauchen“ ist in der Regel keine Lösung. Wer zum Beispiel mit einer weiten Reise versucht, dem Schmerz zu entfliehen, den holen Trauer und Einsamkeit mit Sicherheit auch unter Palmen am Strand ein. Es ist auf jeden Fall besser, diese besondere Situation in vertrautem Umfeld zu erleben. Trauernde sollten Weihnachten ganz bewusst planen und den heiligen Abend mit Freunden und Verwandten verbringen, die damit umgehen können, wenn Tränen fließen. Wichtig ist, dass Angehörige erspüren oder fragen, wie Trauernde mit der „neuen“ Situation umgehen wollen.

Wer es im Laufe des Jahres schafft, Trauer zuzulassen, der ist auf ein Fest wie Weihnachten besser vorbereitet. Wir veranstalten Anfang Dezember immer eine Jahresgedenkfeier für alle Trauernden. In diesem Jahr konnten wir im Haus der menschlichen Begleitung in Bergisch Gladbach über 300 Gäste begrüßen. Wir gedenken unserer Toten, trauern und feiern. Machen uns gegenseitig Mut, uns den Gedanken und Gefühlen des Weihnachtsfestes zu öffnen und kommen ins Gespräch mit denen, die das Gleiche erlebt haben.

Wir wappnen uns für das Weihnachtsfest, das so voller Symbolkraft steckt. Wir spüren in diesen kalten Tagen, wie wichtig es ist, in der Dunkelheit für die Trauernden ein Licht der Hoffnung anzuzünden. Wir gehen aufeinander zu, haben Verständnis füreinander und sind füreinander da. Dann machen wir uns auf den Weg, den Advent und Weihnachten neu zu entdecken.

Auf dem Heimweg klingelt Katja Bergers Handy, ihre Mutter hat beschlossen, Weihnachten wie immer mit der ganzen Familie und ein paar Freunden zu feiern. Auch sie hat Angst vor dem Abend, aber sie ist zuversichtlich, dass Gemeinsamkeit und Vertrautheit allen helfen werden. Als Katja an diesem Adventsabend in ihre Frankfurter Wohnung zurückkommt, ist ihr nicht mehr ganz so schwer ums Herz. Sie zündet eine Kerze an, zieht eine Tüte mit gebrannten Mandeln aus der Jackentasche und beginnt, sich ein bisschen auf Weihnachten zu freuen.

Bergisch Gladbach, im Dezember 2004
Ihr Fritz Roth