Denkanstoß 23 – Wann darf ich wieder lieben?

Helen und Stefan Wesemeyer waren 28 Jahre verheiratet. Sie lebten in Bad Homburg, mit Blick auf Taunustherme und Elisabethenbrunnen – sie standen mitten im Leben. Dann kam der erste Schlaganfall. Stefan schien sich zunächst von seinen Lähmungen zu erholen, seine Sprachfähigkeit machte kleine Fortschritte. Als ein zweiter Schlaganfall diese ersten kleinen Erfolge zunichte machte, konnte der Redaktionsleiter des Bad Homburger Boten nicht mehr sprechen. Er, dessen Beruf die Sprache war!

Helen verstand ihn auch ohne Worte. Aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr ans Bett gefesselter Mann immer schwächer wurde. Weniger wurde. Eines Nachmittags schlief Stefan einfach ein und erwachte nicht mehr. Helen Wesemeyer war mit ihren 56 Jahren plötzlich alleine. Witwe. Der Tod ihres Mannes kam nicht überraschend, trotzdem fühlte sie sich irgendwie unvorbereitet. Der Verlust der Partnerschaft und der vertrauten Gemeinsamkeit lastete schwer auf ihren Schultern. Sie brauchte über ein Jahr, um aus der lähmenden Einsamkeit wieder ins Leben zurückzufinden. Ein Leben ohne Stefan, ohne den Mann, den Geliebten, den Freund.

Nach 14 Monaten, die sie heute als ihre „blinde Zeit“ bezeichnet, war natürlich noch nicht alles wieder in Ordnung. Aber sie wagte einen ersten Schritt. Helen fing an, sich wieder für die Welt zu interessieren. In der Stadtbücherei fand sie einen Job. Gemeinnützig, aber Geld war nicht so wichtig. Was sie dringend brauchte, war der Kontakt zu anderen Menschen.

Als sie dort Bernd, 57, Beamter des Landratsamts a.D. und freiwilliger Büchersortierer i.D. kennen lernte, gab es plötzlich Probleme. Während sie sich mit diesem ruhigen, fröhlichen Mann immer besser verstand, reagierte ihre Schwiegermutter Angelika empört. Ganz vom alten Schlag, war sie der Ansicht, dass Helen in ihrem „Alter“ keinen Freund mehr haben sollte: „Das gehört sich nicht! Du bist nun mal Stefans Witwe!“ Sie konnte nicht verstehen, dass genau das der Fall war, Helen würde immer Stefans Witwe sein. Mit Bernd, der den Platz von Stefan weder einnehmen konnte noch wollte, hatte das gar nichts zu tun. Für Helens Schwiegervater Georg war die neue Beziehung kein Problem. Er meinte: „Mädchen, so ist‘s recht. Nimm dein Leben in die Hand.“

Die Zeiten, in denen man bis in alle Ewigkeit Witwe oder Witwer bleiben musste, sind zum Glück vorbei. Sollten es zumindest sein. Die Erwartungshaltung von Verwandten und Bekannten kann erdrückend sein. Doch wichtig ist allein, wie sich die Trauernden fühlen. Sie wissen selbst am besten, wann sie sich wieder auf jemanden einlassen können. Wann sie Nähe wieder zulassen können.

Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für eine neue Beziehung kann man nicht pauschal beantworten. Es gibt nicht „das Trauerjahr“, nach dem alles abgeschlossen sein kann oder muss, was das bisherige Leben ausgemacht hat. Die benötigte Zeit ist so unterschiedlich wie die Menschen, die sie erleben. Nur die Trauenden selbst sollten bestimmen, wann sie wieder einen Partner in ihr Leben lassen können. Niemand sollte ihnen da hineinreden oder gar Vorschriften machen.

Bergisch Gladbach, im März 2005
Ihr Fritz Roth