Denkanstoß 26 – Trauerorte am Rand der Straße

Auf dem Heimweg. Die Stimmung im Auto ist ausgelassen. Benny, seine Freundin Jule und seine Schwester Diana kommen gerade von ihrer Abifeier. Benny wischt sich eine Lachträne aus dem Auge und bemerkt zu spät, dass ihm mitten auf der B 8 ein Auto entgegen rast. Es kommt zum Frontalzusammenstoß. Jule und Diana sind sofort tot. Benny stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.

Die Eltern der Jugendlichen stehen tagelang unter Schock, die Beerdigung erleben sie wie in Trance. Quälende Fragen lassen Doris und Roland Gorrosch, die Eltern von Benny und Diana, und Franziska Reiche, Jules Mutter, nicht zur Ruhe kommen: Haben unsere Kinder sehr gelitten? Hätten wir sie von der Party abgeholt, könnten sie dann noch leben? Auch Wochen später zieht es die Eltern immer wieder hinaus zur B 8, an den Ort, an dem das Leben ihrer Kinder auf so tragische Weise endete. Nicht nur der Friedhof ist für sie ein Ort der Trauer. Auch hier an der B 8 fühlen sie sich ihren Kindern auf eine besondere Art nahe. Gemeinsam stellen Doris, Roland und Franziska ein Kreuz am Rand der Straße auf.

Wir fahren täglich an solchen Holz- oder Metallkreuzen vorbei. Manche sind mit Blumen geschmückt, andere im Lauf der Jahre verwittert. Ein Kreuz am Straßenrand erinnert uns daran, dass das Leben schlagartig vorbei sein kann. Viele Autofahrer versuchen, diese Kreuze zu ignorieren, was unmöglich ist. Diese Kreuze sind kleine Mahnmale, die uns an unsere eigene Sterblichkeit erinnern. Ob wir wollen oder nicht.

Kreuze am Straßenrand markieren nicht nur Orte des Todes, sondern auch Orte, an denen Menschen trauern. Es gibt viele – sehr persönliche – Trauerorte: Der Nordseestrand, an dem man zuletzt mit dem geliebten Menschen gesessen hat und glücklich war, kann genauso ein Ort der Trauer und des Erinnerns sein wie der belebte Marktplatz, auf dem man jeden Samstag gemeinsam eingekauft hat. Oder eben der Baum, an dem ein Menschenleben endete. Der Tod ist Teil des Lebens. Warum also sollte Trauer nur auf dem Friedhof stattfinden, hinter Steinmauern und Buchsbaumhecken?

Zehntausende Kreuze wurden in den letzten Jahren bundesweit nach tödlichen Unfällen aufgestellt. Jedes einzelne Kreuz hat seine Geschichte, steht für ein Schicksal. Die Kreuze erinnern uns vermeintlich unbeteiligte Betrachter im viel zu schnelllebigen Alltag an Menschen, die nicht mehr sind, und sie mahnen uns, stets daran zu denken, dass auch wir irgendwann nicht mehr sein werden. Memento mori.

Doris und Roland Gorrosch und Franziska Reiche kommen oft zu dem liebevoll geschnitzten Holzkreuz an der B 8. Die Eltern legen frische Blumen nieder, zünden Kerzen an. Die Eltern haben außer den Gräbern ihrer Kinder einen weiteren Platz für ihre Trauer gefunden. An der Straße sind die Jugendlichen im Schrecken gestorben, auf dem Friedhof ruhen ihre Gebeine. Im Herzen und der Erinnerung der Eltern und Freunde bleibt das, was Diana, Jule und Benny im Leben ausgemacht hat: ihr Lachen, ihre Fröhlichkeit und ihre Liebe.

Bergisch Gladbach, im Juni 2005
Ihr Fritz Roth