Sieglinde Ammerhäuser (85) aus Grävenbroich denkt über Sterben und Tod nach. In ihrer Familie ist der Tod ein Tabuthema. Da unterscheiden sich die Ammerhäusers nicht von 99 Prozent der Familien in unserem Land. Sterben müssen immer nur die anderen. Mit zunehmendem Alter wird man natürlich eines Besseren belehrt, das weiß auch Oma Ammerhäuser.
Einzig ihre Enkelin Sabine hat für sie ein offenes Ohr. Sabine studiert evangelische Theologie und Geschichte und hat großes Interesse an alten Sitten und Bräuchen. Oma Ammerhäuser erzählt der Enkelin von der Leichenfrau, die früher schwarz gekleidet durchs Dorf ging und die Nachbarn informierte, wenn jemand gestorben war. Leichenfrauen haben damals den Menschen die traurige Nachricht vom Tod eines Angehörigen oder Freundes überbracht und Trost gespendet. Oma Ammerhäuser schimpft »Wenn ich sterbe, wird das niemand tun. Das steht dann in der Zeitung. Das ist alles so unpersönlich.«
Für die Leichenfrau gab es, je nach Region, ganz unterschiedliche Bezeichnungen: Seelnonne, Heimbürgin, Totenfrau, Totenweibchen oder Totenpackerin. Die Leichenfrau war früher oft die erste Ansprechpartnerin für die Trauernden. Sie ging von Haus zu Haus, verkündete den Nachbarn den Tod des Verstorbenen und informierte über die Beerdigung. Oft richtete sie den Leichnam her, wusch und kleidete ihn, schnitt Haare und Fingernägel. Sie sorgte für die Vernichtung der Utensilien, die für die Leichenwäsche benutzt wurden. Manchmal bekam sie Kleidung als Lohn, manchmal Geld oder Lebensmittel. Das war je nach Region ganz unterschiedlich. Leichenfrauen waren natürlich nicht unumstritten.
Frauen, die so oft mit Toten zu tun hatten, waren in früheren Zeiten den Menschen natürlich auch suspekt, ja unheimlich. Trost und praktische Hilfe aber fallen mir ein, wenn ich an die Tradition der Leichenfrau denke. Eines haben alle Leichenfrauen gemeinsam: Mit dem Aufkommen der Tageszeitungen trat ihre Funktion in den Hintergrund. Nur ganz vereinzelt gibt es sie noch, meist im süddeutschen Raum.
Heute wird ein Todesfall über die regionale Tageszeitung bekannt gegeben und im Mitteilungskasten der Kirche oder der Gemeinde ausgehängt. Ein Aushang, der häufig nicht mehr mitteilt, als dass ein Mensch gestorben ist. Eine Notiz, die einem Menschen nicht gerecht werden kann, die ihn auf seinen Namen und sein Sterbedatum reduziert. Wie viel persönlicher und angemessener war da doch die Bekanntgabe durch eine Leichenfrau, einen Menschen, der auch für Nachfragen zur Verfügung stand und tröstete.
Es gibt Traditionen, die es wert sind, nicht in Vergessenheit zu geraten. Natürlich kann man nicht jedes Ritual wieder beleben, aber man kann von den alten Riten lernen. Wäre es nicht viel mit-menschlicher, wenn die schlimme Nachricht des Todes eines geliebten und geschätzten Freundes oder Verwandten durch einen Menschen überbracht würde? Eine persönliche Begegnung in schwerer Stunde.
Sabine verspricht ihrer Oma, für sie die Leichenfrau zu sein. Sie will gern in der Nachbarschaft von Haus zu Haus gehen, allen Nachbarn von den letzten Stunden ihrer Großmutter berichten und sie zur Trauerfeier einladen. Sie selbst wird ihre Oma waschen und anziehen, ihr die Haare kämmen und mit Hilfe des Bestatters in den Sarg betten.
Bergisch Gladbach, im Oktober 2005
Ihr Fritz Roth