Denkanstoß 34 – Übrig bleiben

Der Anruf kam am späten Nachmittag. Maria war gerade dabei Gemüse einzumachen, als das Telefon klingelte. „Diewes Lisbeth“, wie ihre beste Freundin Elisabeth überall genannt wurde, war gestorben. Einfach so, friedlich eingeschlafen, das Alter eben. Maria setzte sich an den Küchentisch, der Duft des köchelnden Kohlrabi stieg ihr in die Nase, der Geruch erinnerte sie an ihre Kindheit. „Diewes Lisbeth“ war ihr ganzes Leben lang ihre beste Freundin gewesen.

Maria und Elisabeth wurden in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in Westhofen, nicht weit von Worms, geboren. Sie hatten viel erlebt in all den Jahren. Eine glückliche Kindheit in Rheinhessen mit volkstümlichen Traditionen und intaktem Familienleben. Dann kam der Krieg und die Angst um die Brüder und Väter. Die vielen Nachbarn und Freunde, die gingen und nicht wiederkamen. Eine Zeit voller Entbehrungen und Trauer. Aber das Leben ging weiter. Nach Ende des Krieges kam der Neuanfang. Die beiden Frauen halfen mit, das zerstörte Land wieder aufzubauen.

Diese Zeit hat sie geprägt, alte Gewohnheiten erinnern noch heute an die schwierigen Jahre: Teller, die leergegessen werden müssen, weil man Essen nun mal nicht vergeudet. Schränke, vollgestopft mit alten Kleidern, weil man nie weiß, ob man sie nicht doch noch mal brauchen kann. Eigens angelegte und sorgfältig gepflegte Gemüsegärten, denn was man selbst anpflanzt, braucht man nicht zu kaufen.

Der Kontakt zwischen den beiden Freundinnen riss auch dann nicht ab, als Maria in den Nachbarort zog, um Ernst zu heiraten. Ihre große Liebe, die das ganze Leben lang halten sollte. Bis Ernst vor fünf Jahren starb. Seitdem lebt Maria alleine. Auch ihre Kinder sind längst weggezogen. Aus den Mädchen sind erwachsene Frauen geworden, die eigene Familien gegründet haben.

Nur Elisabeth war noch da. Nie riss der Kontakt ab. Elisabeth und Maria waren immer füreinander da, wenn die eine die andere brauchte. Die gegenseitigen Besuche am Wochenende waren ein festes Datum im Wochenkalender. Maria ist jetzt 84. Und Elisabeth ist tot. Maria vermisst ihre beste Freundin.

Erinnerungen an das gemeinsame Leben tauchen auf, an gemeinsame Freude und geteiltes Leid. In ihren Erinnerungen leben die anderen fort, vor allen anderen natürlich „Diewes Lisbeth“ . Wenn Maria an ihre beste Freundin denkt, macht sie das richtig glücklich. Und richtig traurig. Es gibt niemanden mehr, mit dem Maria über ihre Gefühle und Erinnerungen reden kann. Ihre Kinder und Enkelkinder wissen (noch) nicht, was es heißt, „übrig zu bleiben“. Die beste Freundin zu verlieren. Keinen Ehemann mehr zu haben. Allein zu sein.

Dabei wäre es für Maria wichtig, mit jemandem reden zu können. Über Elisabeth, ihre gemeinsame Zeit, aber auch über ihr eigenes Leben. 84 Jahre voller Geschichten, an die sich Maria jetzt nur noch alleine erinnern kann. Geschichten, die darauf warten, erzählt zu werden. Es ist wichtig, dass jemand ihr zuhört. Nicht nur um Marias willen, sondern auch, weil diese Geschichten ansonsten verloren gehen. Und Marias Leben – wie auch das von Elisabeth und allen anderen Menschen – ist viel zu kostbar, um sich nicht daran zu erinnern.

Bergisch Gladbach, im Juli 2006
Ihr Fritz Roth