Zumindest in den allermeisten Fällen. Tränen begleiten unser Leben von der Geburt bis zum Tod. Für den Säugling sind sie überlebenswichtig, seine einzige Chance sich auszudrücken. Kinder weinen, wenn man ihnen ihr Spielzeug wegnimmt. Frauen bei „Vom Winde verweht“. Männer steigt das Wasser in die Augen, wenn die Fußballnationalmannschaft im Halbfinale rausfliegt. Vierzig Badewannen werden in Deutschland täglich voll geweint – 34 davon von Frauen. Weshalb aber weinen wir? Charles Darwin war einer der Ersten, der versuchte, den Tränenfluss wissenschaftlich zu erklären. Weinen diene als „Hilfssignal“ und wirke entspannend, meinte Darwin. Und lag damit, was das „Hilfssignal“ anging, richtig. Die entspannende Wirkung der Tränen ist bis heute umstritten.
Nach dem Evolutionsforscher beschäftigen sich Jahrhunderte später die Emotionsforscher mit dem Phänomen. Weinen ist zumeist ein Zeichen der Hilflosigkeit, knüpft der Biologe Nico Frijda an Charles Darwin an und betont die soziale Dimension dieser dem Menschen vorbehaltenen Form, Gefühle auszudrücken. Weinen drückt im Ernstfall die Bereitschaft aus, jeden Widerstand einzustellen und signalisiert den Wunsch, am Leben zu bleiben, bringt es Frijda auf den Punkt. Der amerikanische Psychologe Jeffrey Kottler sieht in den Tränen Signale, die Zuwendung und Hilfsbereitschaft mobilisieren sollen.
Aufgrund von Umfragen unter Studenten fanden die Wissenschaftler heraus, dass häufiger abends als tagsüber geweint wird, eher zu Hause als in der Öffentlichkeit und – und das war eine echte Überraschung – in nördlichen Ländern eher geweint wird als im Süden. Für das Weinen gilt, was allgemein für Gefühle gilt: Frauen setzen sich durchschnittlich mit größerer Begeisterung emotionalen Situationen aus und verfügen dann über weniger ausgeprägte Filterstrategien als Männer. Dass die Forscher ihre Beobachtungen mit Sicherheit nicht in der Schalke-Arena nach dem wiederholten Verspielen der deutschen Fußballmeisterschaft gemacht haben, versteht sich von selbst.
Im Lauf der letzten zwanzig Jahre, die ich nun schon als Bestatter und Trauerbegleiter arbeite, bin ich natürlich vielen Menschen begegnet, denen die Tränen über die Wangen rollten. Natürlich kann – und möchte – ich hier nicht mit den Wissenschaftlern konkurrieren. Aber auch ich habe meine Erfahrungen mit dem Weinen gemacht. Tränen der Trauer lassen sich kaum wissenschaftlich erklären. Wir weinen in stiller Trauer, wenn wir alleine an das Totenbett oder den offenen Sarg eines geliebten Verwandten oder guten Freundes treten. Weshalb vergießen wir Tränen in einer Situation, in der es zumindest aus biologischer Sicht, keinen nennenswerten Nutzen bringt?
Tränen haben etwas Befreiendes. Wir weinen Tränen der Trauer und Tränen der Freude. Beide kommen aus derselben Quelle. Tränen können wie ein Reinigungsmittel wirken, mit dem wir unsere durch das Leid und den Schmerz des Verlustes düster gewordenen Herzensfenster putzen. Oder wie Thomas von Aquin einmal gesagt hat: „Durch das Weinen fließt die Traurigkeit aus der Seele heraus“.
Wer Tränen zulässt, der hat die Chance, durch die gereinigten Herzensfenster wieder Dinge zu sehen, für die wir in unserer doch sehr Kopf gesteuerten Zeit blind geworden sind.
Bergisch Gladbach, im Juni 2007
Ihr Fritz Roth