Denkanstoß 4 – Trauer und Betroffenheit

Frage: Die Geschehnisse in Erfurt haben über die Grenzen hinaus Betroffenheit ausgelöst. Ist Betroffenheit eine Form der Trauer?
Fritz Roth: Ich unterscheide zwischen Trauer und Betroffenheit. Trauer ist etwas ganz individuelles, was nur der empfinden kann, der einen Verlust erlitten hat. Trauer kann man nur alleine erleben, weil Trauer aus der gleichen Quelle kommt, die wir sonst Liebe nennen. Wenn ich einen Menschen liebe, dann ist es für andere Menschen schwer nachvollziehbar, weshalb ich ihn liebe. Liebe verlangt ganz individuelle Ausdrucksformen, die Außenstehende oft nicht verstehen können. Wir sollten auch bei der Trauer individuellere Ausdrucksformen ausleben.

Wenn wir betroffen sind, dann können wir diese Betroffenheit, im Gegensatz zur Trauer, teilen. So liegen zwischen Betroffenheit und Trauer Welten.
Frage: Die Trauerfeier in Erfurt war ein öffentliches Ereignis. Ist Trauer nicht etwas Privates, was jeder selbstmit sich ausmachen sollte?

Fritz Roth: Trauer ist ein individuelles Gefühl, aber um es ausleben zu können, brauche ich im wahrsten Sinne des Wortes Heimat. Ich brauche „Mit-Menschen“. Trauer braucht Gemeinschaft. Menschen die da sind, oder wie eine Schülerin in Erfurt es so treffend in einem Interview gesagt hat: „Wir brauchen Menschen, die einfach mal den Arm um einen legen“.

Der Tod ist eine Art Amputation. Da wird mir etwas Lebenswichtiges abgeschnitten. Nach einer solchen „Todesamputation“ brauche ich Krücken. Krücken auf die ich mich stützen kann. Krücken die eine Hilfe sind und Halt geben können. Krücken, die helfen, Trauer in Bewegung zu verwandeln, um in der Krise irgendwann eine Perspektive zu entdecken. Deshalb ist es wichtig, dass Trauer nicht anonym und in aller Stille mit starrer „Kopf hoch, das Leben geht weiter“ Haltung durchlebt werden muss – sondern dass wir unsere individuellen Gefühle in einer Gemeinschaft ausdrücken können, die Halt und eine Heimat gibt. Frage: Der Tod ist für viele Menschen nur sehr schwer fassbar. Man möchte Trauer und Leid möglichst sofort überwinden. Warum gelingt es uns nicht, genauer hinzusehen?

Fritz Roth: Der Tod ist deshalb so schwer fassbar, weil wir ihm in unserem Alltag, außerhalb der Medien, kaum noch begegnen. Wir werden nicht mehr mit dem Tod erzogen – dieses alte klassische memento mori – sondern wir werden vom Tod entzogen.

Der Tod ist für mich eine normale und natürliche Grenze, die, wenn man sich ihr stellt, Mut machen kann, den Wert der Dinge zu entdecken, die vor dieser Grenze liegen.

Je grenzenloser wir leben, desto orientierungsloser leben wir auch. Das zeigt sich eigentlich in allen essentiellen Fragen: z.B. im Umgang mit der Natur, mit dem Leben, mit Mitmenschen.

Vor einem „zweiten Erfurt“ werden uns neue Gesetze nur bedingt schützen. Wir sollten versuchen, junge Menschen aus ihren virtuellen Scheinwelten zurück ins richtige Leben zu holen, ihnen Aufmerksamkeit widmen und ihnen auch durch die Beschäftigung mit Tod und Sterben ein Gefühl vermitteln, was es heißt: “Leben zu dürfen”. Wenn wir das Problem an Lehrer und Politiker delegieren, machen wir es uns zu einfach. Jeder sollte darüber nachdenken, was im ganz persönlichen Umfeld getan werden kann, damit sich ein solch schrecklicher Amoklauf nicht wiederholt. Ich bin sicher, wir können eine Menge tun!