Denkanstoß 46 – »Der Ring«

Wenn ich mit dem ICE unterwegs bin, reserviere ich vorher im Großraumabteil immer einen Platz an einem der blauen Tische. Man kann dort hervorragend Zeitung lesen und kommt sehr leicht ins Gespräch mit anderen Reisenden, da es kommunikativer ist, sich gegenüberzusitzen. An eine dieser Begegnungen im Zug erinnere ich mich besonders gerne, da ich von einer jungen Frau etwas Interessantes lernen konnte. Ellen Freudler (32) ließ sich mir gegenüber nieder und schlug ein Exemplar der gleichen Zeitung auf, die auch ich am Bahnhofskiosk gekauft hatte. Sie blätterte im Feuilleton und lächelte, als sie bemerkte, dass auch ich mich gerade diesem Teil der Zeitung widmete. Die Stimme des Zugbegleiters pries in leicht sächselndem Tonfall aus dem Lautsprecher »Goffee, Döö und Kösäbagettes« aus dem Bordrestaurant an. Wieder trafen sich unsere Blicke, wir schmunzelten. Dann verschwand ihr Kopf hinter der Zeitung, hinter der sich fast immer kluge Köpfe verbergen. Etwas zog meinen Blick an. Die junge Frau trug an ihrer rechten Hand einen auffällig großen goldenen Ring. Ein ungewöhnliches Schmuckstück für eine junge Frau, dachte ich bei mir, und bemerkte nicht, dass auch Ellen Freudler mich beobachtete: »ein altes Erbstück« sagte sie und ich muss wohl sehr verdutzt geschaut haben, denn sie fügte hinzu: »Um die Wahrheit zu sagen, es waren mal zwei Erbstücke.«

»Ich finde es toll, dass Sie ihn tragen.« Ellen Freudler rieb sanft mit Zeigefinder und Daumen über das gelblich schimmernde Metall, atmete tief ein und seufzte leise. Es war kein trauriger Laut, den ich da vernahm. Es klang mehr nach einer schönen Erinnerung, die vor ihrem inneren Auge vorbeizog und für den Bruchteil einer Sekunde ein wohltuendes Gefühl hervorrief. Ich spürte, dass dieser Ring für sie etwas ganz Besonderes war. Wir stellten uns vor und ich erzählte der jungen Frau von meiner Arbeit als Trauerbegleiter und Bestatter. Ich beschrieb den privaten Friedhof, der zu unserem Haus der menschlichen Begleitung gehört. »Es gibt Orte der Erinnerung und es gibt Objekte der Erinnerung.« Ich deutete auf den Ring. Ellen Freudler nickte: »Er erinnert mich an meinen Vater und an meine Mutter …« und dann erzählte sie mir die Geschichte des Rings. Als vor acht Jahren ihre Mutter im Sterben lab, nahm sie auf dem Sterbebett den Ehering vom Finger und reichte ihn dem Vater mit der Bitte, das Schmuckstück als Erinnerung immer bei sich zu tragen. Nach dem Tod ihres Vaters im letzen Jahr fand Ellen den Ehering ihrer Mutter in seinem Portemonnaie. Ihr Vater hatte seiner Frau den letzen Wunsch bis zu seinem eigenen Tod erfüllt. Nun besaß Ellen Freudler beide Eheringe ihrer Eltern. Sollte Sie die Ringe bei der Beisetzung des Vaters ins Grab legen? Ellen entschied sich dagegen.

Ich bin dafür, Toten Grabbeigaben mit auf den letzten Weg zu geben, aber ich finde, und hier bin ich einer Meinung mit Ellen Freudler, Schmuck gehört nicht in ein Grab. Ringe, Ketten und Anhänger sind als Erinnerungsstücke zu wertvoll, um sie für immer aus den Augen zu verlieren. Ellen Freudler hatte eine wunderbare Idee. Sie ließ die goldenen Ringe einschmelzen und ein neues Schmuckstück fertigen, den Ring, den sie bei unserer Begegnung am Finger trug. Wieder strich sie mit Daumen und Zeigefinger zärtlich über das goldene Metall und wieder hatte ich den Eindruck, dass die Erinnerung, die die Berührung hervorrief, ihr gut tat. Der Zugbegleiter aus Sachsen kündigte den nächsten Bahnhof an: »… nöächster Häölt ….« Ich packte meine Zeitung ein und reichte Ellen Freudler die Hand.

»Ich glaube …« sagte sie mit ruhiger, liebevoller Stimme » … ich glaube, die Seelen meiner Eltern sind da, wo auch immer sie jetzt sein mögen, miteinander verschmolzen. Sie haben sich so sehr geliebt und genau daran erinnert
mich der Ring.«
Ein sehr schöne Erinnerung. Finden Sie nicht auch?

Bergisch Gladbach im April 2008
Ihr Fritz Roth