Denkanstoß 49 – Der stärkste Mann der Welt

Als die 259-Kilogramm-Eisen auf die Holzbühne knallten, war das wie ein Befreiungsschlag für den Gewichtheber Matthias Steiner. Seine Trauer, das ganze Leid der letzten Monate schien plötzlich für einen Moment Sinn zu machen. Der 26-jährige hatte Gold geholt. Er hat den Traum wahr gemacht, den er mit seiner Frau Susann geträumt hatte. Susann verunglückte bei einem Autounfall vor einem Jahr tödlich. Für Matthias Steiner begann damals die dunkelste Zeit seines Lebens. Wie alle Trauernden war Matthias am Boden zerstört, er war ratlos und voller Wut. Sein Sport und das gemeinsame Ziel haben ihm geholfen, seine unerschöpfliche Wut in beinahe übermenschliche Kraft zu verwandeln.

Für eine Sekunde herrschte Stille im Finale der Superschwergewichtler in Peking. Dann folgte die Szene dieser olympischen Spiele, von der ich hoffe, dass sie ins kollektive Bewusstsein der Menschheit eingeht. Ein 145-Kilo-Kerl hüpft, befreit von einer zentnerschweren Last, über die Bühne. Immer wieder geht er in die Knie, schlägt mit den Fäusten auf den Boden. Matthias Steiner schreit seine Freude – und sein Leid – hinaus. Durch diese beiden extremen Gefühlszustände scheint er in diesem Augenblick zu sich selbst zu finden. Er lässt die Welt teilhaben an diesem Moment des Glücks. Er hat den Schmerz über den frühen Tod seiner Frau in etwas Positives verwandeln können. Bei der Siegerehrung stand Matthias Steiner auf dem Treppchen, küsste weinend ein Foto von Susann. Immer wieder hielt er die Fotografie und die Goldmedaille in die Kameras.

»Wahnsinn, Wahnsinn, ich kann das nicht erklären. Dieses Gold widme ich Susann. Ich hoffe und denke, dass sie das mitbekommt. Ich bin kein abergläubischer Typ, aber ich wünsche mir, dass es so ist. Ich freue mich für jeden, der mir geholfen hat. Vor allem aber für meine Frau.«

Matthias Steiner hat etwas geschafft, was uns allen gelingen kann, wenn wir uns der Trauer stellen. Es geht hier natürlich nicht um die Goldmedaille, über die Matthias sagt: “Was ich verloren habe, ist wertvoller als eine Goldmedaille”. Es geht darum, Trauer als Chance zu begreifen, aus der die Erkenntnis erwachsen kann, dass es Zeit wird, wirklich bewusst zu leben, mit der eigenen Lebenszeit etwas Sinnvolles anzufangen. Wenn das gelingt, dann wird Trauer zur »Trauerpower«.

Natürlich weiß auch der Gewichtheber Matthias Steiner, dass er sich noch so anstrengen kann, seine tödlich verunglückte Susann kommt nicht zurück. Aber er hat etwas gefunden, durch das er seine negativen Energien umwandeln kann. Er stemmt Eisen. Und die nächste Herausforderung wartet schon. Nach dem Olympiasieg will er nun Weltmeister werden.

Matthias Steiner macht durch seine Einstellung und sein Auftreten allen Trauernden Mut. Aus Leid kann etwas Positives entstehen. »Trauerpower« hat den Superschwergewichtler zum stärksten Mann der Welt gemacht.

Bergisch Gladbach im September 2008
Ihr Fritz Roth