Das Telefon klingelt. Eine leise Stimme spricht die Worte, die wir jeden Tag hören und die trotzdem jedes Mal etwas Besonderes sind, weil sie für den Anrufer den Ausnahmezustand bedeuten. „Hallo… hier spricht Franziska Münster … meine Mutter ist … gestorben.“ Meistens entsteht dann eine lange Pause, weil dieser Satz zum ersten Mal ausgesprochen wird. Wir spüren, wie schwer dieser Moment für den Anrufer sein muss.
Schon beim ersten Kontakt bekommt jeder Trauernde von uns so viel Zeit, wie er braucht, die Fassung wiederzugewinnen, sich zu sammeln und uns dann die Dinge mitzuteilen, die nötig sind, damit wir helfen können.
„Meine Mutter heißt Elli Münster, sie wohnt hier in der Friedberger Straße 5“. Wir nehmen die Adresse auf und versuchen schon am Telefon herauszufinden, ob wir den Toten zu uns überführen oder ob wir ihn zu Hause aufbahren sollen, damit die Familie in aller Ruhe Abschied nehmen kann.
Franziska Münster ist dankbar für diesen Hinweis. Sie dachte, wie die meisten Menschen, die uns anrufen, dass Tote sofort abtransportiert werden müssen. Franziska hat in den letzten Monaten ihre Mutter täglich besucht. Elli hatte Krebs und war nicht mehr bereit, eine weitere Chemo durchzustehen. Sie wusste, dass sie sterben würde und wurde in ihren eigenen vier Wänden von einem Palliativteam unterstützt.
Zwanzig Minuten später stehen wir vor der Haustür eines gepflegten Reihenhauses in der Vorstadt. Dunkler Anzug, Krawatte, saubere Schuhe, wir betreten Privatraum und wollen allen Menschen dort respektvoll begegnen. Auch durch unsere Kleidung versuchen wir, diesem besonderen Augenblick Würde zu verleihen.
Wir treffen zeitgleich mit dem Hausarzt Dr. Boreni ein, der seine Patientin seit vielen Jahren kennt. Wir raten davon ab, den Rettungsdienst zu alarmieren, wenn jemand gestorben ist. Ein Toter leidet keine Schmerzen und hat auch keine Ängste. Der Hausarzt oder der ärztliche Notdienst sollten erste Ansprechpartner sein. Ellis Tod kam nicht überraschend, ihre Tochter hat sich in Gedanken darauf vorbreitet und kann jetzt ohne Hektik die nötigen Schritte einleiten.
Franziska Münster führt uns ins Schlafzimmer ihrer Mutter. Elli liegt auf der Seite und im ersten Moment möchte man sie an der Schulter anfassen und sie wachrütteln. Wir fragen Franziska und den Arzt, ob wir die Tote auf den Rücken betten dürfen. Franziska nickt, Tränen rollen über ihre Wangen. Der Arzt nimmt unsere Hilfe dankend an und untersucht den Leichnam, der keine Spuren von Fremdeinwirkung oder Auffälligkeiten aufweist. Dr. Boreni stellt den Totenschein aus und verabschiedet sich.
Franziska liest den grünen Schein durch und schaut uns unsicher, fragend an. Unser Nicken verleiht ihr Gewissheit. Sie darf vor uns ihre Gefühle zeigen. Unsere Anwesenheit, unser gelassener und trotzdem würdevoller Umgang mit der Toten erleichtert den Angehörigen diesen schweren Moment.
Franziska lädt uns in die Küche ihrer Mutter ein. Sie hat Kaffee gekocht. Wir sitzen am Tisch, an den Wänden Familienbilder, die Verstorbene mit den Enkeln, Reiseschnappschüsse und ein altes Foto, das die junge Elli vor einem Modeladen zeigt. Franziska beginnt, von ihrer Mutter zu erzählen. Elli Münster war eine kluge, selbstbestimmte und auch vor allem sehr selbständige Frau. Als Franziska die Worte spricht „Sie war die Chefin, aber auch eine gute Mutter, liebevoll … sie hat mir viel zugetraut …“ beginnt sie laut zu schluchzen. Das Weinen tut ihr gut.
Franziskas Erzählungen sind lebendig und nahbar. Es berührt uns, wie sie über ihre Mutter spricht. Wir begegnen vielen Menschen erst, wenn sie tot sind, durch die liebevollen Geschichten der Angehörigen werden sie für uns lebendig. Wir behandeln alle Toten genauso respektvoll, rücksichtsvoll und zugewandt wie die Lebenden. Unsere Berührungen des Leichnams sind vergleichbar mit dem Körperkontakt, den Ärzte oder Physiotherapeuten zu ihren Patienten haben.
Elli ist in der Nacht in ihrem Bett gestorben. Wir ziehen ihr das Nachthemd aus und waschen behutsam den kleinen Körper der alten Frau. Franziska betritt den Raum, sie beobachtet jeden Handgriff. Wir bitten Franziska, Kleidung für ihre Mutter herauszulegen. Sie wundert sich, weil sie dachte, jeder Tote würde in einem Totenhemd bestattet. Während sie im Kleiderschrank kramt, cremen wir Ellis Arme und das Gesicht ein. Das Kämmen übernimmt ihre Tochter, die durch unseren selbstverständlichen Umgang mit dem Leichnam ermuntert wurde, ihre Mutter zu berühren.
Franziska wundert sich, wie kalt sich die Haut anfühlt. Nach Eintritt des Todes kühlt der Körper auf Raumtemperatur ab. Die Tote zu berühren, hat eine besondere Bedeutung, man „begreift“ im wahrsten Sinne des Wortes, da liegt nur noch eine Hülle, jede Lebendigkeit ist gewichen.
Die Tote anzuschauen, sie anzufassen tut gut im Moment des Abschiedes.
Aber so weit ist es noch nicht. Es besteht kein Grund zur Eile. Ein Verstorbener darf 36 Stunden an dem Ort bleiben, an dem er seinen letzten Atemzug tat. Wenn die Angehörigen es wünschen, ermöglichen wir auch eine längere Abschiedsphase.
Elli ist froh, dass wir die Toten nicht schminken. Ihre Mutter wurde im Alter immer uneitler. Als sie noch in ihrem Modeladen stand, war sie immer top zurechtgemacht. Später war sie glücklich, sich nicht mehr jeden Tag aufdonnern zu müssen. Bei dem Wort „aufdonnern“ lächelt Franziska. So war ihre Mutter, eine schöne Frau, die aber jederzeit zur Selbstironie bereit war.
Franziska hat eine rosa Bluse, einen schwarzen Blazer und einen engen schwarzen Rock bereitgelegt. Dieser Rock gehörte zu Ellis Lieblingsteilen, damit machte sie gerne mal „auf feine Dame“. Auch so ein Begriff, der für Franziska voller Erinnerungen steckt. Diese Redewendung erinnert Franziska daran, dass sich Elli aus kleinen Verhältnissen nach oben gearbeitet hat. Und es erinnert sie an das Augenzwinkern ihrer Mutter, das diesen Ausspruch immer begleitete.
Wir ziehen Elli in aller Ruhe an. Franziska kommt mit Kerzen ins Zimmer. Sie hat sich entschieden, dass ihre Mutter einen Tag lang zu Hause bleiben soll, damit die Verwandten und Freunde sich hier in der gewohnten Atmosphäre von ihr verabschieden können.
Wir helfen Franziska Stühle ins Zimmer zu holen und ermuntern sie, das feine Kaffeegeschirr mit dem Rosenblütendekor auf die Anrichte zu stellen, damit jeder im Raum sofort merkt, dass er sich Zeit lassen kann.
Für den Abschied von einem Toten sollte man sich Zeit nehmen. Es besteht kein Grund zur Eile. Dieser Moment ist unwiederbringlich. Wie das Leben, das zu Ende gegangen ist.
Herzlichst
Hanna Roth David Roth
Bergisch Gladbach im Februar 2022
Es gibt im Moment des Abschieds kein richtig und kein falsch. Niemand muss so Abschiednehmen wie Franziska Münster von ihrer Mutter. Wir erleben viel häufiger, dass die Angehörigen wünschen, dass wir den Toten gleich mitnehmen. Was vollkommen ok ist. Verabschieden kann man sich auch in den Räumen bei uns im Bestattungshaus. Auch wenn jemand sich bewusst dafür entscheidet, den Verstorbenen nicht mehr anzuschauen, wird das bei uns respektiert und gutgeheißen. Wie gesagt, es gibt kein richtig und kein falsch. Es gibt nur die eigene Entscheidung.
Wer sich auf die Begleitung eines Sterbenden vorbereiten möchte, findet hier Informationen: Letzte Hilfe-Kurs