Denkanstoß 56 – Dienst nach Vorschrift

Mit einer zärtlichen Handbewegung strich Oberarzt Dr. Volker Werner über das Gesicht seines jungen Patienten und schloss seine Augen. Er hatte fast eine Woche um Jonas Leben gekämpft, doch die Viren hatten das Fieber immer höher getrieben. “Meningitis” würde auf dem Totenschein stehen und der Begriff “Ansteckungsgefahr” würde besondere Vorsichtsmaßnahmen zur Folge haben.

Der Tod des zwölfjährigen Jungen war auch für den Oberarzt ein Schock. Sein eigener Sohn war im gleichen Alter. Die Eltern hatten jeden Tag an Jonas Bett gesessen, hatten gebangt und gehofft, hatten gebetet und ihn angefleht, er möge ihr Kind retten. Dem erfahrenen Arzt war schon nach den ersten Befunden klar, dass es schwer werden würde, Jonas zurück ins Leben zu holen.

Als Intensivmediziner hatte sich Volker Werner im Lauf der Jahre so etwas wie eine eigene Philosophie zurecht gebastelt. Ob jemand wieder gesund wird, hängt nicht nur von der Qualität der Behandlung und der Wirkung der Medikamente ab. Manchmal braucht man auch Glück – Unterstützung von “Oben”. Jonas musste sterben und Volker Werner stellte sich nicht zum ersten Mal die Frage, nach welchen Kriterien da “Oben” Glück verteilt wird? Auf der Intensivstation gehört Sterben zum Alltag, trotzdem ist der Tod auch für die Menschen, die dort arbeiten, nichts Alltägliches. Als Jonas Mutter Dr. Werner umarmte und ihm dankte, für alles, was er für ihren Jungen getan hatte, gelang es ihm nur mit Mühe, seine Tränen zurückzuhalten. Er fühlte sich wie ein Versager, auch wenn er wusste, dass Jonas nicht zu retten war.

Der Oberarzt ließ den Leichnam des Kindes gegen die Vorschriften in ein ruhiges Zimmer bringen und gestattete den Eltern am Totenbett ihres Sohnes zu sitzen, um Abschied zu nehmen. Kerzen wurden angezündet, aus dem CD Player erklangen die Lieblingssongs von Jonas. Eine Schwester brachte eine Flasche Wein. Natürlich achtete er darauf, dass sich niemand an dem Leichnam anstecken konnte. Für Jonas hatte er am Ende nichts mehr tun können, den Eltern wollte er helfen, ihre Trauer in einem würdigen Rahmen auszuleben. Er gab ihnen im Krankenhaus die Möglichkeit, so zu trauern, als wären sie in vertrauter Umgebung. Mit Dienst nach Vorschrift hatte das nichts zutun.

Leider handeln nicht alle Professionen, die an der Schnittstelle zwischen Leben und Tod wirken, wie z.B. Ärzte, Bestatter, aber auch Friedhofsangestellte und Beamte auf Ämtern und Behörden so einfühlsam wie Dr. Volker Werner.

Auf der Beerdigung von Jonas wäre es beinahe zum Eklat gekommen. Taucht der Begriff “Ansteckungsgefahr” auf dem Totenschein auf, dann darf der Sarg nicht mehr geöffnet werden und die Sargträger müssen Gummihandschuhe und Mundschutz tragen. Ein surreales Szenario, das die Trauer der Familie und Freunde empfindlich stört. Doch der zuständige Mitarbeiter des Friedhofsamtes bestand darauf: die gesetzlichen Vorschriften müssen eingehalten werden.

Da trat Volker Werner aus den Reihen der Trauergemeinde hervor, stellte sich als Arzt vor und überzeugte Freunde und Bekannte der Familie, dass von einem Körper, der über eine Woche tot war, keine Gefahr mehr ausgehen kann. Volker Werner trug zum ersten Mal in seinem Leben einen Sarg. Er weinte und es tat ihm gut.

Bergisch Gladbach im Februar 2010
Ihr Fritz Roth