Als Sabine T. erfuhr, dass sie schwanger war, hätte sie am liebsten vor Glück die buchstäblichen Luftsprünge gemacht. Das Kind, obwohl noch gar nicht geboren, rückte sofort an die erste Stelle in ihrem Leben. Voller Vorfreude kauften sie und ihr Partner Reinhold Babykleidung und eine Wiege und gingen gemeinsam zur Schwangerschaftsgymnastik. Als auf dem Ultraschallbild zu erkennen war, dass Sabine und Reinhold eine Tochter haben würden, einigten sie sich sehr schnell auf einen Namen. Das Baby im Bauch der jungen Mutter war nicht bloß ein heranwachsender Fötus – das war ihr Kind: Annette. Auch Freunde und Verwandte merkten natürlich, dass da plötzlich ein neuer kleiner Mensch ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Teil in Sabines und Reinholds Leben geworden war. Rückblickend sagt Sabine über diese Zeit: „Die Schwangerschaft mit Annette waren die schönsten Monate meines Lebens“.
Als die 30. Woche anbrach – bisher war die Schwangerschaft ohne Komplikationen verlaufen – geschah das Unfassbare: Annette starb im Mutterleib.
Ich glaube, für Eltern gibt es nichts Schlimmeres als den Verlust eines Kindes. Sabine T. klammert sich an die glücklichen Momente, die sie mit Annette erleben durfte, als sie die sanften Tritte des Ungeborenen in ihrem Bauch spürte und genau merkte, dass Annette in diesem Moment wach war.
Nun, nach dem so schmerzlichen Tod ihrer Tochter möchte Sabine über ihr verstorbenes Kind reden, sie möchte sich erinnern und um Annette trauern. Ihre Eltern verdrängen den schweren Schicksalsschlag, von ihnen hört Sabine Sätze wie „es hat ja noch gar nicht richtig gelebt“ oder „du bist noch jung, du kannst doch noch andere Kinder bekommen“. Ihre Freunde sind verunsichert, niemand traut sich, das Thema anzusprechen. Aber nicht nur Freunde und Verwandte wenden sich von der Not trauernder Eltern ab. Auch Ärzte und Schwestern im Krankenhaus, Pfarrer, Bestatter und Beamte sind häufig hilflos und überfordert. Statt die Betroffenen zu stützen, halten sich viele in ihrer eigenen Hilflosigkeit an Vorschriften und Gesetzen fest. Mit teilweise erschütternden Folgen. Nur zwei Beispiele:
Hessen, 1999: Eine Mutter bringt Drillinge tot zur Welt. Zwei Kinder haben das Mindestgewicht von fünfhundert Gramm, das dritte nicht. Das zuständige Friedhofsamt will deshalb nur das Begräbnis von zwei Kindern zulassen. Ein Pfarrer erreicht schließlich, dass alle drei Kinder gemeinsam beerdigt werden dürfen. Berlin, 1993: Ein für den städtischen Friedhof zuständiger Beamter verfügt, dass ein gerade erst bestattetes, nur 460 Gramm schweres Baby wieder ausgegraben werden soll. Erst ein Machtwort des Bezirksbürgermeisters verhindert, dass diese Anordnung in die Tat umgesetzt wird.
Den „richtigen“ Umgang mit betroffenen Eltern gibt es nicht. Sabine T. traf im Krankenhaus auf einen verständnisvollen Arzt, der sie nicht „schonte“, wie es früher üblich war. Nach der Geburt wurde ihr Annette auf den Bauch gelegt. Zusammen mit Reinhold konnte sie sich von der Kleinen verabschieden. Der Arzt ermutigte Sabine und ihren Mann, sich eigene Trauerrituale auszudenken und sich aktiv mit dem Verlust ihres geliebten Kindes auseinander zu setzen.
Eltern müssen trauern dürfen. Sie müssen über ihre verstorbenen Kinder sprechen können. Dazu brauchen sie Ansprechpartner, die das aushalten. Nicht nur die Kirche, auch wir Bestatter sind an dieser Stelle aufgerufen, als Trauerbegleiter Mut zu machen und zu stützen.
Betroffene Eltern sollten sich trauen, Forderungen an Bestatter und Friedhofsverwaltungen zu richten. Es darf nicht davon abhängen, ob ein Kind über 500 Gramm wiegt, damit es bestattet werden darf. Wir brauchen keine Bestattungspflicht. Was trauernde Eltern brauchen, ist ein Bestattungsrecht.
Fritz Roth