Hunderte Erdbeben sind jedes Jahr in Japan zu spüren. Oft bebt die Erde mehrmals am Tag. Und immer wieder fordern die Beben Todesopfer. Beim Kanto-Erdbeben in Tokio 1928 starben über 140 000 Menschen. 1995 waren es in Kobe 6400. Das aktuelle Beben hat wahrscheinlich mehr als 10 000 Menschen das Leben gekostet.
Die Bilder, die wir aus der Region Miyagi im Fernsehen sehen, zeigen zerstörte Dörfer, verwüstete Landschaften und sie zeigen Menschen, die überlebt haben, die sich diszipliniert, scheinbar ohne zu klagen an den Wiederaufbau machen. Sie zeigen Menschen, die ihre Trauer verbergen.
Der Shintoismus lehrt Demut: Alles Leben auf der Welt kommt aus der Natur und kehrt wieder zur Natur zurück. In Japan werden Tote nach buddhistischem Ritus verbrannt, die Totenasche wird in einer Urne beigesetzt. Doch zunächst werden Verstorbene aufgebahrt und feierlich mit Blumen geschmückt. Die Japaner achten darauf, dass der Kopf eines aufgebarten Toten nach Norden weist. Dieses Ritual geht angeblich auf Buddha zurück. Die Ausrichtung nach Norden symbolisiert den Tod. In Japan werden sie niemanden finden, der mit dem Kopf ausgerichtet nach Norden schläft.
Tote werden gewaschen, dann zieht man ihnen ein weißes Gewand an. Das letzte Hemd der Japaner erinnert an ein Pilgergewand, das Anziehen des Leichnams gehört zur rituellen Vorbereitung des Toten auf die bevorstehende Reise in die Unterwelt. Dem Verstorbenen werden sechs Münzen zugesteckt, sein Fahrtgeld für die Fähre über den Fluss der Unterwelt.
Der entscheidende Moment während der Verabschiedungszeremonie ist die Verbrennung des Toten. Nur engste Familienmitglieder nehmen daran teil. Die Asche des Verstorbenen bewahren die Japaner in einer Urne auf, die für einige Wochen mit nach Hause genommen wird. Im Rahmen einer letzten Zeremonie wird die Urne dann auf dem Friedhof beigesetzt. All das geschieht im Verborgenen.
Im Gegensatz zu dieser alten und im Volk tief verwurzelten Bestattungstradition sahen wir die Bilder von rasch durchgeführten Erdbestattungen in Gemeinschaftsgräbern. Für viele der immer noch Vermissten wird es nie ein Grab geben. Der Schmerz um das verlorene Hab und Gut, die Trauer um die Toten wird in vielen Fällen noch um die nicht möglichen Bestattungs- und Erinnerungsrituale verstärkt.
Auch wenn es ihnen schwer fällt, es zu zeigen, die Japaner sind im Moment ein trauriges Volk. Ich denke in diesen Tagen oft an die Hinterbliebenen der Erdbeben- und Tsunami-Opfer. Und wir sollten dies auch noch morgen und in den nächsten Monaten tun, wenn wir uns wieder von den Nebensächlichkeiten unseres Alltags ablenken lassen.
Gedanken und Gefühle erzeugen Solidarität. Vor allem sollten wir aber darüber nachdenken, wie wir in unserer Gesellschaft ohne den Hintergrund von Katastrophen unsere alte Sterbe-, Beerdigungs- und Bestattungskultur leichtfertig aufgeben. Und damit ein bedeutendes Stück Lebenskultur.
Bergisch Gladbach im März 2011
Fritz Roth