Denkanstoß 30 – Das Urnengrab unter der Ulme

Harald Winkler (78) saß in meinem Büro und faltete nervös das Blatt Papier auseinander, auf dem seine Frau Lisa handschriftlich ihren letzten Willen festgehalten hatte. Der Nachlass war sorgsam geregelt und es gab für jeden in der Familie ein tröstendes Wort. Doch dann kam ein Passus, der ihren Mann verunsicherte: Lisa wollte verbrannt werden. Harald Winkler erfuhr erst durch das Testament vom Wunsch seiner Frau, mit der er fast 40 Jahre verheiratet war. »Wir haben doch sonst über alles gesprochen«, wunderte er sich und gab mir mit zittrigen Händen das Blatt.

»Verbrennt mich und legt meine Urne unter einer Ulme in die Erde« stand da zu lesen. Für Harald Winkler, in dessen Familie seit Generationen im Sarg bestattet wurde, war dieser Wunsch zunächst befremdlich. Natürlich wusste er, dass Ulmen Lisas Lieblingsbäume waren. Die Vorstellung, seine Frau verbrennen zu lassen, war ihm, das sah ich ihm an, mehr als nur unangenehm.

Manchmal ist es einfach nur Unkenntnis, die uns zweifeln, manchmal auch verzweifeln lässt. Feuerbestattungen gehen zurück auf die religiöse Vorstellung, dass durch die Verbrennung des Leichnams der Weg für die Seele ins Totenreich freigemacht wird. In Europa und dem Nahen Osten wurden seit ungefähr 3000 v.Chr. Tote verbrannt.

Mitte des 5. Jhds. wurde das Verbrennen im alten Rom verboten, da in der Stadt zu viele Einäscherungen stattfanden. Die Asche wurde schon damals in kunstvollen Urnen aufbewahrt. Karl der Große hielt das Verbrennen von Toten für einen heidnischen Brauch und verbot diese Art der Bestattung unter Androhung der Todesstrafe. Nach Aufklärung und französischer Revolution wurde die Einäscherung um 1800 wieder zugelassen. Und obwohl die katholische Kirche den Christen die Feuerbestattung 1886 erneut untersagte, entstanden in Mailand und Gotha (USA) die ersten Krematorien. Heidelberg folgte, und die Bundesländer erließen nach und nach entsprechende Gesetze, die das so genannte »Kremieren« zuließen.

Heute werden in Deutschland bis zu 37 Prozent der Verstorbenen eingeäschert. In Japan sind es sogar 99 Prozent. Harald Winkler quälte sein Gewissen, er wollte einerseits den letzten Willen seiner Frau respektieren, andererseits war es ihm wichtig, für seine Familie einen Platz der Erinnerung zu schaffen. Herr Winkler schien die Urnenbestattung mit anonymer Bestattung zu verwechseln. Selbstverständlich kann man auch ein Urnengrab zu einem Ort der Erinnerung machen. Mir ist es sehr wichtig, dass Menschen nicht namenlos verschwinden. Dazu gehört die Gestaltung der Urne, dazu gehört auch die Gestaltung der Grabstelle.

Ich rate, nach Möglichkeit selbst ein Behältnis anzufertigen. Denn nur, was man begriffen hat in seiner ganzen Sinnlichkeit, das kann man akzeptieren, damit kann man leben. Die Asche sollte nicht einfach in den Boden geschüttet werden. Sie sollte eine Umfassung erhalten, die man selbst gestaltet hat, mit den eigenen Händen. Damit man begreift, dass der Mensch, dessen Asche darin begraben wird, im physischen Sinn nun wirklich nicht mehr da ist.

Im Garten, der zum Haus der menschlichen Begleitung gehört und den wir in Zukunft als Friedhof nutzen werden, fanden wir eine Ulme, unter der die Urne mit der Asche von Lisa Winkler schließlich beigesetzt wurde. Harald hielt eine wunderbare Rede und dann zog er ein Holzschild mit dem Namen seiner Frau und einem eingefassten Foto aus der Tasche. Er befestigte das Schild an der Ulme und nickte mir wissend zu. Harald Winkler hat den letzten Willen seiner Frau respektiert und für sich und seine Familie einen Ort der Erinnerung geschaffen.

Bergisch Gladbach, im Januar 2006
Ihr Fritz Roth