Denkanstoß 36 – Mai statt November

Bei meiner letzten Führung durch das „Haus der menschlichen Begleitung“, zu Gast war eine 9. Klasse aus Euskirchen, stellte einer der Schüler eine interessante Frage: „Warum gilt der November eigentlich als Trauermonat?“ Einer seiner Klassenkameraden hatte eine Antwort: „Na, weil im November die meisten Menschen sterben?“
Das statistische Bundesamt würde dem Schüler widersprechen. Denn pro Monat sterben durchschnittlich etwa 70.000 Menschen in Deutschland und im November nicht mehr, als in anderen Monaten.

Der Trauermonat November hat sein Image wahrscheinlich durch die vielen Feiertage die mit Tod und Trauer zutun haben. An Allerheiligen gedenkt die katholische Kirche ihren Heiligen, an Allerseelen allen Verstorbenen. Die Protestanten erinnern sich am Totensonntag an die Verstorbenen des vergangenen Kirchenjahres. Der Volkstrauertag ist der Gedenktag an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Im November werden die Tage kürzer, die Temperaturen fallen, der Himmel ist dunkel und von Wolken verhangen. Die Erntezeit ist vorüber und die Bäume verlieren ihr Laub. Die Natur bettet sich zur Ruhe und das Jahr geht zu Ende. Nur wenige Blumen wie die Schneeheide blühen noch – sie stehen einsam und verlassen wie der Trauernde.
Ich finde, es wird Zeit, die Trauer aus dieser dunklen Jahreszeit herauszuholen. Der Trauermonat November taugt nicht mehr als Ritual, da die alten Riten und Bräuche die meisten Menschen sowieso nicht mehr erreichen. Was auch damit zutun haben könnte, dass einem Düsterkeit und Melancholie dieses Monats schon genug zu schaffen machen. Ich schlage deshalb vor, den Mai zum Trauermonat zu erklären. Für mich ist Trauer eine Form von Liebe, deshalb gehört sie auch in den Monat der Liebe.

Im Mai bliebe keine Blume allein. Magnolie, Pfingstrose, Goldregen und Flieder zeigen ihre Blüten. Apfel- und Kirschbäume blühen und lassen auf eine gute Ernte hoffen. Überall summt und surrt es: Die Natur ist voller Leben. Auch ein Friedhof ist „lebendiger“ an einem Tag im Mai. Menschen finden sich in erwachender Natur zusammen und besuchen gemeinsam das Grab eines guten Freundes oder geliebten Verwandten. Trauer braucht eine Heimat! Wo kann man diese Heimat wohl eher finden? Inmitten von Blütenzauber und zartem Grün der Bäume oder an einem kalten verregneten Novembernachmittag.

Der Tod gehört zum Leben. Es ist wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern. An einem Trauertag sollte man sich nicht nur an die Verstorbenen erinnern, sondern auch an sein eigenes Lebensende. Ein Trauertag im lebensbejahenden Monat Mai würde uns helfen, zu akzeptieren, dass Leben und Sterben untrennbar zusammen gehören.

Bergisch Gladbach, im November 2006
Ihr Fritz Roth