Wussten Sie, dass in Deutschland fast 18.000 Menschen leben, die über 100 Jahre alt sind? Die allermeisten davon sind Frauen. Rund achtzig Prozent.
Wir Frauen überleben die Männer im Schnitt um vier bis fünf Jahre. Und schon allein deshalb sterben wir anders. Weil wir häufiger den Tod unserer Partner miterleben. Weil wir öfter als Männer erfahren, was es heißt, Abschied zu nehmen. Weil wir, wenn wir nicht wegschauen – und auch darin sind wir besser als Männer – vorbereitet sind.
Vorbereitet? Damit meine ich nicht Formulare oder Regelwerke. Keine Checklisten, keine Paragrafen. Vorbereitung bedeutet: gelebtes Leben.
Vorbereitung? Sie steckt in unseren Erinnerungen. In all der Fürsorge, die wir geleistet haben. In den Rollen, die wir übernommen haben – und in den Lasten, die wir über viele Jahre hinweg getragen haben.
Vorbereitung heißt auch: Wir haben gelernt, Abschiede zuzulassen. Erst kleine – wenn Kinder aus dem Haus gehen. Dann größere – wenn Freundinnen oder Geschwister sterben. Und irgendwann den größten Abschied: unseren eigenen.
Ich begegne dem Tod jeden Tag. In meinem Beruf als Bestatterin höre ich Geschichten von Angehörigen, ich sehe Gesichter von Verstorbenen, ich wasche und kleide sie, ich bereite sie für den Abschied vor. Dabei spüre ich: Frauen sterben anders. Viele Gesichter von Frauen erzählen mir eine andere Geschichte als die von Männern. Sie erzählen Geschichten von Fürsorge, von Verletzlichkeit und Last. Die Gesichter erzählen von Verlusten, die getragen wurden. Und sie erzählen auch von Stärke, von Gelassenheit – und von Würde.
Natürlich sind das nur Beobachtungen, keine unumstößlichen Wahrheiten. Denn so, wie jeder Mensch anders lebt, so stirbt auch jeder Mensch anders. Aber eines ist klar: Wer den Tod verdrängt, verliert ein Stück Lebendigkeit. Wer ihn anschaut, gewinnt an Tiefe. Darin sind Frauen besser. Und davon handelt mein Buch. Es versammelt Gespräche mit Frauen – berühmte und ganz unbekannte. Mit Künstlerinnen und Unternehmerinnen, mit Wissenschaftlerinnen und Nachbarinnen. Mit Lebenden und mit Verstorbenen.
Ich erzähle von Begegnungen mit Angehörigen. Von Menschen, die über ihre Toten sprechen. Manchmal ganz leise. Manchmal voller Wut. Und manchmal gar nicht mehr – weil die Worte fehlen.
Und ich erzähle von meinen eigenen Erfahrungen als Bestatterin. Von dem, was ich gesehen habe. Von dem, was ich gespürt habe. Und von dem, was ich lernen durfte.
Natürlich gibt es keine unumstößlichen Wahrheiten über Leben und Tod.
Es bleiben Fragen. Viele Fragen. Aber genau darin liegt der Sinn. Nachzuspüren. Zu vermuten. Sich zu fragen, was uns trägt.
Wer das Ende akzeptiert, gewinnt Tiefe. Gewinnt Lebenslust. Und Freude – mitten im Jetzt. Manche fragen mich: Macht Ihnen dieser Beruf Freude? Meine Antwort ist klar: Ja. Sehr sogar. Denn im Abschied entsteht Nähe. Im Sterben liegt Würde.
Sterben Frauen anders? Ja. Aber es gibt eine große Gemeinsamkeit.
Für uns alle, ob Frauen oder Männer, liegt die Aufgabe darin, dem Tod so zu begegnen, dass er uns erinnert, wie wertvoll das Leben ist.
Hanna Roth: STERBEN FRAUEN ANDERS – Erfahrungen zwischen Empathie, Stärke und Schmerz (Bonifatius Verlag, 2025).
Herzlichst
Hanna Roth
Bergisch Gladbach im Oktober 2025
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