Denkanstoß 65 – “Zwei Menschen, ein Weg. Bis zuletzt!”

Die Nachricht vom Tod der Kessler-Zwillinge hat niemanden kalt gelassen. Der begleitete Suizid ruft Bewunderung hervor, Irritation, stille Sympathie, Kritik, eine Art zartes Unverständnis. Vielleicht auch Sehnsucht. Vielleicht auch Angst. Und vielleicht vor allem eines: Staunen darüber, wie konsequent zwei Menschen ihr Leben gelebt haben. Und wie konsequent sie es beendet haben.

Vielleicht war die größte Kunst der Kessler-Zwillinge gar nicht der Cancan, die perfekt synchronen Beine, die Shows, die Kostüme, der Glitzer. Vielleicht war es vielmehr die Kunst, 89 Jahre lang unzertrennbar zu bleiben. Es gab nur wenige Momente im Leben von Alice und Ellen, in denen sie getrennt auftraten, dachten, lebten. Ihr Leben bestand aus Gleichklang.

Sie begannen früh zu tanzen. Mit elf Jahren standen sie auf Bühnen, oft noch in viel zu großen Kostümen. Der Cancan machte sie berühmt. Ihr Humor, ihre Leichtigkeit, ihre Verlässlichkeit machten sie unvergesslich. Die beiden waren Profis. Diszipliniert, fleißig, ernsthaft. Zwei Frauen, die wussten, was sie wollten – und wie sie leben wollten.

Und vielleicht genau deshalb wussten sie auch, wie sie sterben wollten.

Die Kessler-Zwillinge haben immer wieder betont, wie sehr sie sich davor fürchteten, getrennt zu werden. Nicht räumlich – sondern existenziell. Wenn eine krank würde und die andere nicht. Wenn eine pflegebedürftig würde und die andere noch tanzen könnte. Wenn eine früher gehen müsste und die andere zurückbliebe, halbiert, auseinandergerissen.

In einem Interview sagten sie einmal: Wir sind zwei Körper, aber ein Leben.

Dieser Satz wirkt heute wie eine zarte Vorausschau auf ihr Ende. Als hätten sie schon damals gewusst, dass sie die Verantwortung für dieses eine Leben bis zum Schluss gemeinsam tragen würden.

Der Begriff „begleiteter Suizid“ löst bei vielen Menschen spontane Reaktionen aus. Manche denken an Freiheit, manche an Verantwortung, manche an Abschied und Angst. Wieder andere haben moralische Vorbehalte.

Dabei ist begleiteter Suizid vor allem eines: eine Form der Selbstbestimmung am Lebensende, die nicht aus Verzweiflung entsteht, sondern aus Klarheit. Nicht aus Impuls, sondern aus einer bewussten, durchdachten Entscheidung. Es braucht medizinische Gutachten, psychologische Gespräche, Wartezeiten, Abwägungen, Alternativen. Es wird geprüft, gefragt, begleitet.

Viele Menschen, die diesen Weg wählen, sind nicht lebensmüde. Sie sind lebensfroh – aber nicht mehr bereit, ein Leben zu leben, das nicht mehr zu ihnen passt. Sie wollen nicht leiden. Sie wollen nicht entmündigt werden.

Man kann viel darüber diskutieren: ethisch, religiös, medizinisch, philosophisch. Und genau das sollten wir tun. Offen. Ehrlich. Mit all den Ambivalenzen, die dazugehören.

Aber eines sollten wir nicht tun: so tun, als wäre diese Entscheidung per se Ausdruck von Schwäche. Oft ist sie das Gegenteil. Sie ist Ausdruck von Klarheit, Mut, Fürsorge – sich selbst gegenüber und manchmal auch dem Menschen, mit dem man sein Leben geteilt hat.

Man muss der Entscheidung der Kessler-Zwillinge nicht vorbehaltlos zustimmen. Man darf Fragen haben, Zweifel, leise Einwände. Abschiede sind nie eindeutig. Und dennoch: Es spricht viel dafür, die Entscheidung der beiden Frauen nicht nur zu respektieren, sondern als konsequent und stimmig zu begreifen.

Wenn zwei Menschen 89 Jahre lang in einer so engen, so frei gewählten Verbundenheit leben, dann kann ein gemeinsamer Tod Ausdruck dieser Verbundenheit sein – kein Bruch davon.

Viele Menschen erleben am Ende ihres Lebens, dass andere bestimmen, wie es weitergeht: Ärztinnen, Angehörige, Pflegeheime, Systeme. Die beiden haben sich bewusst dagegen entschieden. Sie haben die Verantwortung für ihr Ende nicht anderen überlassen – so wie sie es ihr Leben lang taten.

Dieser Schritt zwingt uns dazu, Fragen zu stellen, die wir gern auf später verschieben:

Wie möchte ich sterben?

Wovor fürchte ich mich wirklich?

Wie viel Leid bin ich bereit zu tragen?

Was macht mein Leben lebenswert – und was nicht mehr?

Was bedeutet es, autonom zu sein?

Solche Fragen öffnen Räume für Gespräche. Und Gespräche öffnen Räume für Entscheidungen.

Es ist ein erstaunlich zärtliches Detail, fast poetisch: Zwei Leben, die immer nebeneinander verliefen – und ein letzter Ort, an dem sich sogar ihre Asche berührt. Nicht getrennte Grabstellen, nicht zwei Gefäße, die irgendwann voneinander weggerückt werden. Eine Urne. Was für ein schöner Gedanke!

Es geht nicht darum, diesen Weg für alle Menschen gutzuheißen. Es geht darum, zu erkennen, dass es mehr als einen richtigen Weg gibt. Die beiden Frauen haben den ihren gefunden – und sind ihn konsequent gegangen. Vielleicht ist es genau das, was diesen Abschluss so stimmig macht.

 

Herzlichst,

Hanna und David Roth

Bergisch Gladbach im November 2025

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